Gespräch mit Lemohang Jeremiah Mosese: „Ich fing an, meine Schreie zu visualisieren“
Dorothee Wenner: Ihr Film beginnt mit Bildern, die eine üppige, geheimnisvolle Landschaft zeigen, dann verlagert sich die Geschichte in eine städtische, wahrscheinlich afrikanische Gegend. Warum bekommen wir als Zuschauer*innen nur eine Ahnung von der Region, in der Ihr Film spielt?
Lemohang Jeremiah Mosese: Der Film könnte überall spielen, in Paris genauso wie in einem Dorf in der Nähe von Beirut. Er erzählt von Menschen, die am Rande einer für sie neuen Gesellschaft leben, die dort aber noch nicht wirklich angekommen sind. Er handelt von Menschen, die ihr Vaterland zugleich lieben und verabscheuen.
Als weiße Europäerin war ich, nachdem ich Ihren Film gesehen hatte, tief bewegt. Es fühlte sich fast so an, als hätte ein Freund oder eine Freundin mir gegenüber ein Geständnis gemacht oder mir ein Geheimnis anvertraut. Sicherlich rührt dieser Eindruck daher, dass Ihr Film ein sehr persönlicher ist und ein schwieriges Thema behandelt. Dennoch sieht man nicht Sie im Film, sondern eine junge Frau, die wie Jesus ein Kreuz trägt. Wer ist diese Frau, wen „verkörpert“ sie, in welcher Beziehung stehen Sie zu ihr?
Die Arbeit an diesem Film hatte für mich in seelischer Hinsicht eine erstickende Wirkung. Er entspringt einer inneren Region, in der Liebe und Wut nah beieinanderliegen. In meinen früheren Arbeiten habe ich ein gottähnliches Bild meines Landes bzw. des afrikanischen Kontinents ganz allgemein aufrechterhalten. Aber in diesem Film habe ich revoltiert. Ich zeige mit dem verdammenden Finger auf meine „Mutter“. Ich bin zugleich Richter und Gericht. Es ist äußerst schmerzhaft, gegen sich selbst und die eigenen Ideale anzugehen, aber ich musste dieses Haus niederbrennen und als Außenseiter auf Afrika blicken. Das Grausame dabei ist, dass ich über meine „Mutter“ spreche.
Die Frau, die das Kreuz trägt, verkörpert das Heimatland, eine Frau auf dem Markt, einen Migranten – sie könnte jede oder jeder sein, auch Sie als weiße Europäerin, die Sie die Last und die Schrecken Ihrer Vorfahren als Erbe in sich tragen, wenn Sie gegen diese aufgezwungene Identität rebellieren.
Sie nennen Ihren Film ein „Lamento“. Was bedeutet dieser aus der Musik stammende Begriff für Sie bzw. für die Struktur und Tonart des Films?
Als ich begann, mich mit der Idee zu diesem Film zu beschäftigen, spürte ich den Drang, von den Dächern zu schreien und aller Welt die Schuld am Zustand unserer Nation zuzuschreiben. Ich fing an, meine Schreie zu visualisieren, in Bilder und Worte zu übersetzen. Als ich damit fertig war, fühlte es sich an wie das Schluchzen eines verzweifelten Menschen. Aus diesem Grund habe ich den Film „mein Lamento“ genannt.
Das Kreuz, die Schafe, das Blut, der Engel: Auf der visuellen Ebene Ihres Films tauchen zahlreiche christliche Symbole auf, oft sehr schön dargestellt. Die Erzählung dagegen bezieht sich mit einer Tendenz zur Bitterkeit – oder noch stärkeren Gefühlen – auf das Thema Religion. Warum spielt die Religion für die Hauptfigur Ihres Films eine so entscheidende Rolle?
Ich würde nicht von Bitterkeit sprechen, richtiger wäre es, dieses Gefühl „Distanz“ zu nennen. Aus meiner Sicht ähnelt Religion – zumindest in mancher Hinsicht – der digitalen Revolution unserer Zeit. Letztere ist einerseits das Beste, was der Menschheit je widerfahren ist, zugleich aber kann sie Fürchterliches auslösen oder entfesseln. Ähnliches gilt für die Religion: Ich habe gesehen, wie der Glaube an Gott bemitleidenswerten Menschen geholfen hat, sich zu unglaublich beeindruckenden Persönlichkeiten zu entwickeln. Aber ich habe auch das Gegenteil davon erlebt und mitangesehen, wie im Namen Gottes oder für ihn entsetzliche Verbrechen begangen wurden, durch die sich schöne Seelen in Monster verwandelt haben.
Heute leben Sie – wie die Erzählerin in Ihrem Film – in Berlin. Inwiefern hat das Leben im Exil diesen Film inspiriert?
Ja, ich lebe heute zwischen Lesotho, Südafrika und Berlin, wo ich inzwischen wohne. Als Ausländer in Berlin zu leben hat mich dazu inspiriert, meine „Mutter“ mit anderen Augen zu betrachten. Ich sehe und verstehe sie auf eine neue Weise.
Ihr Film richtet sich an die „Mutter“, die ihn jedoch nie sehen und sein Lamento nie hören wird. Auch von dieser Tatsache her rührt der Schmerz, von dem der Film handelt. Hatten Sie während der Arbeit an MOTHER, I AM SUFFOCATING. THIS IS MY LAST FILM ABOUT YOU dennoch die „Mutter“ als Publikum im Kopf? Und wenn nicht sie – wen dann?
Ich bin dankbar dafür, meinen Film im Internationalen Forum der Berliner Filmfestspiele zeigen zu können. Das war ein Traum von mir, der nun Wirklichkeit wird. Zugleich aber bereitet es mir großes Unbehagen zu wissen, dass ich ein hauptsächlich weißes Publikum damit unterhalten werde, schlecht über meine „Mutter“ zu reden. Und ja: Mir war während der Arbeit an diesem Film stets bewusst, dass er wahrscheinlich zuerst in diesem Teil der Welt zu sehen sein würde.
Ihr Film hat ein aufwendig gestaltetes Sounddesign, das fällt besonders in den leiseren Sequenzen auf. Im Gegensatz dazu hört sich die Wiedergabe des „Briefs“ im Off fast an, als wäre die Stimme mit einem altmodischen Kassettenrekorder aufgenommen worden: Sie klingt rau, fast privat.
Dieser Monolog ist mit einem einfachen Diktiergerät aufgenommen worden, während einer Session im Schneideraum. Die meisten Passagen sind unverändert meinen privaten Texten entnommen. Ich habe das Diktiergerät benutzt, weil ich wollte, dass der Monolog sich wie eine private Unterhaltung anhört, weil es sich um reale Geschichten und Gedanken handelt. Diese Ebene meines Films wollte ich so authentisch wie möglich vermitteln.
Derzeit existiert in Lesotho keine nennenswerte kinematografische Infrastruktur. Es überrascht deshalb wenig, dass Sie sich das Filmemachen dort selbst beibringen mussten. Inzwischen haben Sie zwei Kurzfilme realisiert, die auf vielen Festivals gezeigt wurden. Ein zweiter Langfilm ist bereits in Vorbereitung. Was hat Sie zum Film, zum Kino gebracht? Und wie haben Sie sich selbst dafür ausgebildet?
Ich war ungefähr fünf Jahre alt, als ich anfing, häufig ein verlassenes Gebäude in der Nähe meines Elternhauses zu betreten. Dieses Anwesen lag in einer der härtesten Gegenden meiner Heimatstadt. Nachts hielten sich dort Junkies, Kriminelle und Sexarbeiter*innen auf. Es war eine Unterwelt-Szenerie. Tagsüber wurde das Gebäude gereinigt, und in einem der Säle wurden zumeist amerikanische Filme vorgeführt. An die genauen Umstände kann ich mich nicht erinnern, nur daran, dass die Projektion nicht sehr gut war. Diesen Ort habe ich regelmäßig mit fast religiösem Eifer aufgesucht. Ich sah dort zahlreiche Filme, deren Handlung ich später in der Schule meinen Freunden erzählte. Oft erfand ich einfach Figuren dazu. Später begann ich damit, aus Milchkisten und Rollvorrichtungen von alten Kassen eigene Vorführgeräte zu bauen. Für diese selbstgebauten Apparate begann ich damals, meine ersten „Animationsfilme“ zu drehen. Während ich die Rollen mit von mir gezeichneten Actionfiguren abspulte, versammelten sich andere Schüler um mich herum. Je mehr Übung ich bekam, umso besser konnte ich die Muskeln meiner Vorstellungskraft bewegen.
Natürlich ging ich auch weiterhin ins Kino. Wenn mein Geld nicht für die Eintrittskarte reichte, lauschte ich außerhalb des Kinosaals, im Foyer, und stellte mir von da aus vor, was auf der für mich nicht sichtbaren Leinwand zu sehen sein könnte. Diese Erfahrung erfüllte mich mit Freude, obwohl es natürlich eine Qual war, den Saal nicht betreten zu dürfen. Ich erinnere mich, manchmal nur ein paar Münzen gehabt zu haben, nicht genug für die Eintrittskarte. Manchmal ließ der Kassierer mich verspätet noch rein, erlaubte mir sozusagen Filmzeit im Gegenwert zu meinen Münzen. Einmal spielte ein Kleinkrimineller namens Jimmy in der Nähe des Kinos ein Glücksspiel. Er wollte meine Münzen und versprach, meine Eintrittskarte zu bezahlen, falls er gewänne. Er verlor das Spiel – und ich meine Karte. Aber irgendwie hatte er wohl Mitleid mit mir: Er griff nach mir und versuchte sich mit Gewalt Zutritt ins Kino zu verschaffen, während ich auf seiner Schulter hing. Der Türsteher fing an mit ihm zu rangeln, andere Leute zogen an mir. Schließlich schaffte ich es in den Kinosaal, er allerdings nicht. Einige Jahre später wurde Jimmy erschossen. Er ist einer der Menschen, die in meinem Film erwähnt werden.
Als ich älter war, sah ich PLATOON von Oliver Stone. An diesen Film erinnere ich mich, weil ich damals bereits entschlossen war, Filmemacher zu werden. Meinen allerersten Film, einen Spielfilm, habe ich völlig ohne Geld realisiert. Damals wusste ich noch nicht, dass es auch Kurzfilme gibt, und hatte deshalb keine andere Wahl, als einen langen Spielfilm zu drehen. Das fertige Resultat war zwar nur ein Amateurfilm, den ich nie irgendjemandem gezeigt habe. Aber mit der Arbeit an diesem Film habe ich alles über das Filmemachen gelernt.
(Interview: Dorothee Wenner, Januar 2019)