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64 Min. Englisch.

Zwischen 1957 und 1964 schrieb die polnische Dichterin Zofia Bohdanowiczowa dem Autor Józef Wittlin 25 Briefe. Beide lebten im nordamerikanischen Exil. Die Korrespondenz liegt in der Houghton Library an der Harvard University – Signatur „MS Slavic 7“. Eine Frau sichtet die Briefe: Tage voller zerknitterter Papierbögen, vergilbter Briefumschläge, Abende an der Bar, Gespräche mit einer Person im Off darüber, welche Gefühle die Arbeit in ihr auslöst. Erst als ein anderes polnisches Immigrantenpaar in Kanada seinen Hochzeitstag feiert, erfahren wir, wer die Frau ist: die Urenkelin und Nachlassverwalterin der Dichterin, deren Bemühungen zu Spannungen mit einer Tante führen. Andere Spannungen wiegen genauso schwer – jene zwischen zwei Menschen, die die Geschichte getrennt hat, zwischen dem Inhalt eines Briefs und seiner Materialität, zwischen dem Prozess und seiner psychologischen Ebene. Zofias Worte erscheinen in Form von Untertiteln, Handschriften, gedruckt, im Lesesaal, im Hotelzimmer, ihre Empfindsamkeit durchdringt die schmucklosen Orte, wird eins mit der Stille und dem Klang der Orgel, mit der Melancholie dessen, was noch ist und was nicht, mit der Melancholie der Archive. (James Lattimer)

Sofia Bohdanowicz wurde 1985 in Toronto (Kanada) geboren. Zurzeit schließt sie ihr Masterstudium im Fach Film Production an der York University in Toronto ab. 2018 nahm sie an den Berlinale Talents teil. Erste Kurzfilme realisierte Sofia Bohdanowicz ab 2012. MS Slavic 7 ist ihr dritter abendfüllender Film.

Deragh Campbell wurde 1989 in Toronto geboren. Bis 2013 studierte sie Creative Writing an der Concordia University in Montreal. Seitdem hat sie als Schauspielerin und Drehbuchautorin gearbeitet. MS Slavic 7 ist ihr erster abendfüllender Film.

Gespräch mit Sofia Bohdanowicz und Deragh Campbell: „Ein Brief ist ein Monolog, in dem man sein eloquentestes Selbst präsentiert“

Adam Cook: Was hat Sie zu diesem Film inspiriert?  

Sofia Bohdanowicz: Es begann mit der Entdeckung der Briefe meiner Urgroßmutter Zofia Bohdanowiczowa. Ich hatte mich zuvor bereits mit ihren Gedichten beschäftigt und machte eine Online-Recherche, um herauszufinden, ob es noch mehr Material gab. Ich stieß auf das Archiv der Houghton Library in Harvard, in dem ich 24 Briefe verzeichnet fand, die sie auf Polnisch mit dem für den Nobelpreis nominierten Dichter Józef Wittlin gewechselt hat. Ich kontaktierte die Zuständigen in Harvard und bat darum, Scans der Briefe für mich anzufertigen, außerdem sprach ich mit Deragh über die Möglichkeit, etwas aus dem Material zu machen. Sie hatte dann die Idee zu einem Film, der sich über drei Tage erstreckt.   

Was hat Sie dazu bewogen, erneut zu der Figur der Audrey Benac aus Ihren Filmen NEVER EAT ALONE (2016) und VESLEMØY’S SONG (2018) zurückzukehren?

Deragh Campbell: Das hat für mich etwas damit zu tun, den Prozess zu beobachten, in dem eine fiktionale Figur entsteht: Wie sie im Verlauf des Films als Person und als Figur konkret wird, wie sie sich von mir als Stellvertreterin für Sofia zu einer Mischung aus Sofia und mir und zu einem unabhängigen Wesen entwickelt. Uns interessierte, wie sich dieser Prozess auf die Darstellung auswirkt, wie sich eine reale Erfahrung, die man als Schauspielerin macht, in einem Film umsetzen lässt. Wir wollten die Idee von mir als Double von Sofia weiterentwickeln, indem wir im Film zeigen, wie sie die Briefe entdeckt, indem wir filmten, wie ich selbst sie entdecke. Ich las die Briefe erst, als wir mit den Dreharbeiten begonnen hatten. Ich las sie abends, und am nächsten Morgen sprach ich beim Dreh einen Monolog auf der Grundlage der Lektüre. Diese Monologe schrieb ich jeweils in der Nacht davor auf zwei Notebooks: auf einem waren meine Antworten auf die Briefe gespeichert, auf dem anderen Sofias Antworten. Sie hatte unterstrichen, was ihr besonders wichtig war, und ich wusste, was  für mich von zentraler Bedeutung war; die Monologe sind eine Mischung aus unser beider Reaktionen auf das Material.
Das war eine tolle Erfahrung. Während meines Studiums liebte ich die Vorbereitungen zum Schreiben eines Aufsatzes: das Recherchieren, das Sammeln von Ideen – aber ich hasste es, dann wirklich zu schreiben. Die Monologe sind im Rohzustand einer solchen vorbereitenden Recherche, in ihnen steckt die Liebe zu unbearbeitetem Material und zu ersten Assoziationen, die man hat. Nach NEVER EAT ALONE (2016) wollten wir besser verstehen, warum Audrey sich mit ihrer Familiengeschichte beschäftigte und was ihr das gab. Was suchte sie, und wovor rannte sie vielleicht weg?

Sofia Bohdanowicz: Als ich François Truffauts Filme über Antoine Doinel sah, gefiel mir daran besonders, dass man die Entwicklung dieser Figur über Jahre hinweg beobachten kann. An unserer Arbeit mit der Figur Audrey mag ich, dass sie voneinander unabhängige Abenteuer erlebt und dabei auf unterschiedliche Weise Teile ihrer Familiengeschichte erforscht. Sie versucht, sich zu behaupten, ihre eigene Stimme zu entwickeln und sich über ihre Überzeugungen klar zu werden.

Könnten Sie etwas über die Widerstände vonseiten der Familie und des Archivs berichten, denen Audrey sich bei ihrem Versuch, Zofias Nachlass für die Nachwelt zu sichern, gegenübersah?

Sofia Bohdanowicz: Archive sind dazu da, unterschiedliche Objekte und Artefakte zu erhalten, aufzubewahren und zu restaurieren – das ist etwas sehr Positives. Trotzdem finde ich es schwierig, wenn bei einer Recherche, ob nun zu meiner Familie oder über Kathleen Parlow [kanadische Geigerin und Musikpädagogin, von der Sofia Bohdanowicz’ Film VESLEMØY’S SONG handelt; Anm. d. Red.], wenn Institutionen unseren Zugang zu den historischen Gegenständen kontrollieren. Ab einem gewissen Punkt wird das zu einem Problem. Darauf wollten wir hinweisen, weil es in Bezug auf Audreys Familiengeschichte eine Dissonanz erzeugt: Diese Geschichte befindet sich in einem Archiv und wird dort aufbewahrt, sie selbst hat aber nur eingeschränkten Zugang zu ihr. Wenn es kein Archiv gibt, nimmt sich niemand dieser Geschichte an, wo aber liegt hier der Sinn, wenn niemand Zugang zu ihr hat?
Innerhalb einer Familie gibt es immer Menschen, die glauben, die Geschichte gehöre ihnen. Nur weil ein Familienmitglied sich – wie Audrey – stärker für sie interessiert, bedeutet das nicht, dass sie ein größeres Besitzrecht an ihr hat. Da Audrey und nicht Tante Ania zur Nachlassverwalterin ernannt wird, entsteht eine Situation, in der Eifersucht eine große Rolle spielt und die dazu führt, dass Ania Audreys Kompetenz in Frage stellt. Es gibt in Familien diese hierarchische Struktur, in der du als Jüngere automatisch herablassend behandelt wirst. Man betrachtet dich als Kind, auch wenn du längst erwachsen bist. Ania arbeitet als Kuratorin, Audrey bricht also gewissermaßen in ihr Territorium ein und glaubt, sie könne das einfach so tun.  

Deragh Campbell: Wir wollten zeigen, inwiefern die Familie Teil deiner Identität ist, was sehr positiv und erfüllend sein kann, manchmal aber auch sehr schmerzhaft ist. Indem sie ihre Familiengeschichte erforscht, erzeugt Audrey Verunsicherungen, die in erster Linie von den Erwartungen herrühren, die die Familie ihr gegenüber hat. Weder Audrey noch ihre Tante sind hier im Recht oder im Unrecht. Für Audrey ist es ein persönliches Anliegen, das Werk ihrer Urgroßmutter wiederzubeleben, Ania betrachtet diese Initiative lediglich als ungezogene Anmaßung. Es liegt eine merkwürdige Art von Würde darin, die Familiengeschichte unangetastet zu lassen, sich auf sie zu beziehen, ohne zu tief in ihr zu graben.

Wie verliefen die Dreharbeiten?

Sofia Bohdanowicz: Es war wichtig, so viel wie möglich in chronologischer Reihenfolge zu drehen, damit Deragh aus ihrer Reaktion auf die Briefe eine authentische Darstellung der Figur entwickeln konnte. Drei Tage lang haben wir jeweils abwechselnd den Monolog im Union Restaurant, die Archivsequenzen im polnischen Konsulat und die Begegnungen mit den Archivaren in der TIFF Bell Lightbox gefilmt. Dass wir das Fest zum 60. Hochzeitstag meines Onkels und meiner Tante mit der Kamera festhielten und in den Film aufnahmen, haben wir erst am Tag vorher entschieden. Wir hatten das strukturell noch nicht bis ins Letzte durchdacht und beobachteten Deragh dabei, wie sie in verschiedenen Situationen verschiedene Dinge tat, sodass wir am Ende über eine Fülle an Reaktionen verfügten, mit denen wir arbeiten konnten. Alle verhielten sich ganz natürlich, ohne zu wissen, was wir mit dem Material anstellen würden. Es war sehr interessant, Deragh dabei zuzusehen, wie sie ihre Darstellung zu strukturieren begann, und wie diese Darstellung wiederum in die Welt passte, die wir in dem Film erzeugen.  

Würden Sie etwas zur Verwendung der Musik sagen?  

Sofia Bohdanowicz: Ich mag es nicht, in einem Film übermäßigen Gebrauch von Musik zu machen, es ist aber wichtig, das richtige Stück auszuwählen, um die passende Atmosphäre zu schaffen und eine Szene mit einer stimmigen Palette an Tönungen auszustatten. Ich komme aus einer Familie von Musikern, habe selbst Klavier gespielt, und mein Vater schlug das Adagio aus Bachs C-Dur-Tokkata (Bach-Werke-Verzeichnis 564) für Orgel vor. Er sagte: „Es beginnt sanft, dann gibt es eine tonale Verschiebung und es wird psychedelisch und bizarr.“ Deragh und ich haben wirklich darauf angesprochen. Es funktioniert wie ein Heldenthema, verleiht ihrer Reise jedoch einiges an Horror und Intensität. Sich mit Familiengeschichte zu beschäftigen, ist nicht immer nett, es gibt Bereiche in deiner eigenen Ahnengalerie, die von dunklen Begebenheiten überschattet sind, die schwer auf der Geschichte lasten. Hier gibt es eine Parallele zu Audreys Reise, auf der sie zunächst an der Oberfläche kratzt, sich dann ganz in die Sache vertieft und ihr plötzlich nicht mehr gewachsen ist.

Der Film vermittelt einen höchst reizvollen Grad an Taktilität – wie sind Sie filmisch an die Briefe herangegangen?

Sofia Bohdanowicz: Zuerst betrachtet Audrey die Briefe als physische Objekte, richtet ihre Aufmerksamkeit auf ihre Materialität, lauscht und spürt den Geräuschen nach, die sie bei ihrer Handhabung erzeugen. Ich habe viel Zeit damit verbracht, das Rascheln und Knistern von Papier aufzunehmen, um wirklich ein Gefühl davon zu vermitteln, wie spröde die Briefe waren, wie empfindlich und fragil. Das war wichtig, weil sich Audrey für die Briefe mehr als Objekte interessierte als im Hinblick auf ihren emotionalen Gehalt. Wir wollten die Objekte als Talismane erkunden. Welche besonderen Kräfte verbergen sich in ihnen? Was haben sie durchgemacht und in sich aufgenommen? Für Audrey war es wichtig, das Gewicht dieser Geschichte sinnlich zu erfahren, und zu erleben, was es bedeutet, die Briefe in ihrer Hand zu halten, auch wenn sie noch kein Verständnis von ihrer inhaltlichen Bedeutung hatte.  

Audrey bezeichnet die Briefe als „herzzerreißend verzweifelt“ und „beängstigend roh“. War es für Sie wichtig, sie nicht übermäßig zu romantisieren?  

Deragh Campbell: Ein Brief ist ein Monolog, in dem man sein idealisiertes oder sein eloquentestes Selbst, auf jeden Fall nicht unbedingt die ehrlichste Version von sich präsentiert. Er fühlt sich an wie ein Appell, man schreibt ihn, schickt ihn ab und sagt: „Schau, was sich in meinem Inneren verbirgt!“ Es ist eine unglaublich verletzliche Sache.

Sofia Bohdanowicz: Im Film sagt Audrey auch, dass es fast so etwas sei wie „die Anstrengung, überhaupt alles in Sprache zu überführen“. Es ist ein Kampf um Gehör und Sichtbarkeit, geführt von Menschen, die sehr viel durchgemacht haben, den Zweiten Weltkrieg überlebt haben, die Diskriminierung, weil sie Polen waren, und die sich nun in Großbritannien oder den USA ein neues Leben aufbauen wollen. Es liegt wirklich etwas ganz Besonderes darin, dass meine Urgoßmutter und Józef Wittlin, der Jude war und den Holocaust überlebt hat, nach allem, was sie durchgemacht hatten, die Energie aufbrachten, miteinander in Verbindung zu treten und sich zu treffen.

Deragh Campbell: Und indem wir mit Audrey eine dritte Partei hinzufügten, haben wir einen Zugang zu zwei Erzählungen geschaffen: zu der Erzählung, die aus den Briefen hervorgeht, und zur Erzählung dessen, wie Audrey die Briefe wahrnimmt. In der Auseinandersetzung mit den Briefen ihrer Urgroßmutter begegnet sie ihren eigenen Unsicherheiten, ihrer eigenen Unfähigkeit, genau zu artikulieren, was sie fühlt. Audrey und ihre Urgroßmutter verfolgen somit das gleiche Ziel der Selbstdarstellung, was zu einem sehr intimen Austausch zwischen beiden führt, auch wenn sie durch die Zeit und mehrere Generationen getrennt sind. Eine meiner Zielsetzungen bei den Monologen bestand darin, zu zeigen, dass man, wenn man schreibt oder als Schauspielerin arbeitet, ähnlich viele Höhen und Tiefen und Phasen von extremem Selbstzweifel durchmacht. Man sieht, wie sie mit sich kämpft, wie sie von einer Idee oder Assoziation in höchste Aufregung versetzt wird, plötzlich zutiefst enttäuscht ist und in eine Krise existenziellen Ausmaßes gerät. Man versucht, Bedeutung zu fassen zu bekommen, verliert sie wieder, und es fühlt sich ein bisschen so an, als würde die ganze Welt zusammenbrechen.

Sofia Bohdanowicz: Dieses Ringen darum, miteinander in Verbindung zu treten und einander über die Sprache vollständig zu offenbaren, wer man ist, hat etwas Trauriges, aber auch zutiefst Romantisches an sich. Bevor wir mit der Arbeit an diesem Film begannen, haben wir Ruth Beckermanns DIE GETRÄUMTEN (2016) über den Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan gesehen. Es war eine der schönsten Filmvorführungen, die ich je erlebt habe, weil unsere Reaktionen derart synchron, weil wir gleichzeitig so am Boden zerstört waren. Etwas Ähnliches geschieht im Zusammenhang mit der physischen Distanz zwischen Zofia und Józef, mit der Tatsache, dass sie sich nur einmal persönlich begegnet sind und es ihnen dennoch gelingt, die Essenz ihres Wesens zu erfassen und sich daran festzuhalten.

(Interview: Adam Cook)

Produktion Sofia Bohdanowicz, Deragh Campbell, Calvin Thomas. Produktionsfirmen Sofia Bohdanowicz (Toronto, Kanada), Deragh Campbell (Toronto, Kanada), Lisa Pictures (Toronto, Kanada). Regie, Buch Sofia Bohdanowicz, Deragh Campbell. Kamera Sofia Bohdanowicz. Montage Sofia Bohdanowicz, Deragh Campbell. Sound Design Elma Bello. Ton Matthew Chan. Mit Deragh Campbell, Elizabeth Rucker, Marius Sibiga, Aaron Danby.

Uraufführung 12. Februar 2019, Forum

Filme

Sofia Bohdanowicz: 2012: Modlitwa / A Prayer (7 Min.). 2013: Wieczór / An Evening (19 Min.), Dalsza Modlitwa / Another Prayer (6 Min.). 2015: Never Eat Alone (67 Min.). 2016: Maison du Bonheur (62 Min.). 2018: Veslemøy’s Song (9 Min.), The Soft Space (4 Min.). 2019: MS Slavic 7.

Foto: © Lisa Pictures

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