Ein neuer Realismus
„In allen Dingen ist das Streben nach Entropie angelegt, und am Ende dieser Entwicklung sind es jeweils immer vereinzelte Ereignisse und Nebenfiguren, die die Führung übernehmen“, sagt eine namenlose Figur in NASHT zu einem Freund und beendet damit die Reise, auf die der Film uns mitgenommen hat.
NASHT erkundet die Ambivalenzen, die durch die Realität unseres Alltags im Iran entstehen. In allen Narrativen sind das Öl und die damit verbundenen Dynamiken zu finden. Öl verändert und vergiftet unsere Erwartungen an die Realität.
Der Film erprobt einen neuen Realismus, dessen Grundlagen undurchsichtig, surreal und vieldeutig sind. Die Handlung zielt nicht darauf ab, das Ergebnis jeder einzelnen Begegnung der Figuren zu enthüllen. Das bedeutet zugleich, dass der Szenenverlauf und der Film an der Schwelle zu einem Schluss enden kann und nicht zwangsläufig am Schluss selbst. (Suzan Iravanian)
Gespräch mit Suzan Iravanian: „Öl vergiftet und verwandelt die Wahrnehmung der Realität“
Gabriela Seidel-Hollaender: NASHT ist Ihr erster abendfüllender Spielfilm nach mehreren Kurzfilmen und einem Dokumentarfilm. Was war Ihr Ausgangspunkt für dieses Projekt?
Suzan Iravanian: Tatsächlich basiert der Film auf einer Kurzgeschichte, die ich für einen Wettbewerb geschrieben habe, den mein Tutor für kreatives Schreiben an der Oxford University veranstaltet hat. Diese Geschichte handelt von zwei eineiigen Zwillingsschwestern, die eine lose Verbindung zu ihrer Familie haben und auf altmodische Weise vom Thema Kommerz besessen sind. Die Charaktere der Zwillinge waren für mich so interessant, dass ich für den Film zunächst beide als Protagonistinnen – als eine Art Hybrid – vorsah. Eines Tages, nach einem Streit der Schwestern über eine zerbrochene chinesische Skulptur, stattete ich eine von ihnen mit der körperlichen Fähigkeit aus, Öl zu produzieren. Ich hatte vor, die Reaktion der Familie darauf wie auch auf dieses kommerziell verwertbare Produkt zu untersuchen, aber es fehlte der größere Zusammenhang, und insgesamt war die Geschichte zu kurz. Aus diesem Grund habe ich mich entschieden, ein Drehbuch für einen Film daraus zu machen, der in einer nicht näher bestimmten Region im Iran spielt.
Der Film befasst sich im weiteren Sinn mit einer Reihe aktueller gesellschaftlicher Themen wie Migration, der allgemeinen Gier nach Öl und der Ausbeutung von Frauen. Was hat Sie dazu veranlasst, diesen symbolischen Ansatz für den Film zu wählen?
Mir wurde irgendwann klar, dass es die schwer zugängliche Ware Öl ist, die unsere Wahrnehmung der Realität vergiftet und verwandelt. NASHT ist für mich eine Erkundung von verfälschten Realitäten sich wandelnder Geografien und einer verwundbaren Gesellschaft.
Die Hauptfigur Ihres Films ist eine über 50-jährige Frau, Foziyeh. Daneben spielen auch ihre Tochter und ihre Schwester wichtige Rollen. Warum haben Sie sich dafür entschieden, eine Frau dieser Generation in den Mittelpunkt des Films zu stellen?
Man muss bedenken, dass die Erde sehr viel älter ist als das Öl, das erst vor ungefähr hundertfünfzig Jahren entdeckt wurde. Als das Öl begann, an Bedeutung zu gewinnen, gab es die Erde bereits seit vielen, vielen Jahren. Ihre Existenz war nicht von Anfang an mit dem Öl verbunden. Man kann einen alternden weiblichen Körper, der Öl produziert, durchaus mit einem Land oder einer Situation vergleichen. Öl als Ware stammt nicht aus der besten und am weitesten entwickelten Phase einer Landesgeschichte. Öl entsteht aus Zerfall, aus wirtschaftlichen Komplexitäten, aus komplizierten Wechselwirkungen und manipulierten Realitäten. Für mich ist die Protagonistin nicht so wie beispielsweise Paris Hilton, die ein Vermögen geerbt hat und sich immer mehr selbst in eine Ware verwandelt, sondern eine Frau mit vielen Möglichkeiten in einer unberechenbaren, komplizierten Situation, in die das Alter sie versetzt.
Der Film ist voller Anspielungen und Referenzen. Auffallend sind die Bilder von Fenstern in verschiedensten Formen und ein einbrechendes Dach, wodurch eine Lücke entsteht, durch die Licht in das Gebäude fällt. Was steht hinter diesen Details?
Die Fenster bedeuten Zugang zu neuen Bedingungen, zu anderen Räumen und manchmal auch zu konstruktiven neuen Möglichkeiten. Ich beziehe mich dabei auf Gordon Matta-Clarks CUTTINGS, auf seine gezielten Schnitte durch die Decken und Wände verlassener Gebäude. Man muss sich ein Ereignis vorstellen, das in einem bestimmten Raum stattfindet: Angesichts all dieser Fenster und Öffnungen besteht die Möglichkeit, das Narrativ des Ereignisses in Richtung neuer Räume und Bedingungen zu entwickeln. Diese Wirkung entfaltet sich nicht nur von innen nach außen; auch die äußeren Bedingungen können nach innen dringen. Wir leben in einem Kontext (dem des Mittleren Ostens), der durch unberechenbare Umstände vergiftet ist, aber manchmal entstehen daraus ganz außergewöhnliche Möglichkeiten (zum Beispiel, wenn Licht durch das Loch scheint).
Sie arbeiten mit langen Kameraeinstellungen, einem moderaten Tempo und einer vorwiegend beobachtenden Haltung. Wie haben Sie Ihr visuelles Konzept entwickelt?
Ich kann diese Frage vielleicht am Beispiel einer Landschaft beantworten. Stellen wir uns eine sehr ruhige, flache Landschaft vor. In dieser Landschaft passiert nichts, nichts bewegt sich. So eine Landschaft erfordert eine ruhige Kamera und große Distanz. Sobald aber eine Ölquelle zu sprudeln beginnt, verwandelt sich diese Gegend plötzlich in Chaos, das langsame Tempo, an das sich alle Elemente in dieser Landschaft gewöhnt hatten, verändert sich rapide. Um diesen Wechsel zu zeigen, war es notwendig, die bewegungslose Ebene mit langen Einstellungen und in langsamem Tempo zu zeigen. Sobald es jedoch darum ging, das plötzlich entstehende Chaos in dieser Landschaft zu zeigen, war es wichtig, dies durch den Einsatz dissonanter Szenen zu zeigen und die Erzählung in Fragmente zu zerlegen. Die Kontinuität der gewissermaßen erdölgesättigten Handlung musste durchbrochen werden.
Der Film ist eine Koproduktion zwischen dem Iran und der Tschechischen Republik. Wie kam es zu dieser Konstellation, und wie waren die Produktionsbedingungen?
Teile der Postproduktion unseres Films fanden in Prag statt, weil eine der Produktionsgesellschaften sowie einer unserer Produzenten, Kaveh Farnam, dort ansässig sind. Auch die Spezialeffekte wurden von einem tschechischen Postproduktionsstudio erstellt. Ich lebe in Shiraz, und im Gegensatz zu Teheran, dem Zentrum des Filmschaffens im Iran, ist es hier schwierig, das passende Equipment und eine Filmcrew zu finden. Aber ich habe darauf bestanden, hierzubleiben, weil ich glaube, dass diese Stadt und ihre Menschen viele Möglichkeiten bieten und ich nur die richtige Gelegenheit brauchte, um sie irgendwann zu nutzen. Ich habe in Shiraz zunächst mit Crews gedreht, deren Mitglieder von hier stammen, mit Ausnahme meines Kameramanns, der aus dem Libanon stammt und in den USA lebte, als NASHT entstand.
Anfangs hatten wir nur ein kleines Budget, und es gab keinen Produzenten. Ein zufälliges Treffen mit dem Regisseur und Produzenten Majid Barzegar bei einem Filmworkshop in Shiraz und eine Begegnung in Dubai mit dem iranischen Filmproduzenten Kaveh Farnam von der tschechischen Filmproduktionsfirma Europe Media Nest veränderte alles. Auf Grundlage der Beteiligung Kavehs führten wir Teile der Postproduktion in Zusammenarbeit mit dem Magic Lab Studio in Tschechien durch. Die Vorproduktion dauerte insgesamt sehr lang, was zum einen an dem fehlenden Budget lag und zum anderen daran, dass ich über ein Jahr lang intensiv mit meinen Schauspielern proben musste, da sie alle keine Profis sind.
Welche Länder sind für die Verbreitung des Films vorgesehen?
Ich denke an einen weltweiten Vertrieb, aber das hängt natürlich von den Verträgen ab, die wir mit Verleihern und Weltvertrieben abschließen können. Der Kinostart im Iran ist für uns von größter Bedeutung, vorausgesetzt, wir bekommen die Erlaubnis und können alle erforderlichen Bedingungen für einen Kinostart erfüllen. Aber ich denke, das braucht Zeit, und möglicherweise stoßen wir auch auf einige Schwierigkeiten.
(Interview: Gabriela Seidel-Hollaender, 2019)