Sensorisches Kino
RETROSPEKT ist ein Film, der durch Mettes Perpektive gesehen und gefühlt wird, der gewissermaßen in der Ichform erzählt ist und einen Schauplatz hat, den ich als ‚sensorisches Kino‘ bezeichne. Ich arbeite intuitiv und assoziativ, und das Vermitteln eines Gefühls ist mir genauso wichtig wie das Erzählen einer Geschichte. Ich möchte Mettes Leben nicht illustrieren, sondern ihre Interpretation dieses Lebens zeigen, ihre Erfahrung, ihre zerbrochene Realität und all die unbeholfenen Verhandlungen, die sie darüber führt.
Musik und Ton
Musik und Sounddesign haben für mich schon immer eine wichtige Rolle bei der Umsetzung des sensorischen Kinos und dem Changieren zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven gespielt. Der Sounddesigner Dan Geesin und ich arbeiten immer parallel, er benutzt die gleichen Elemente wie ich bei der Entwickung des Films, ohne dabei einfach nur das Drehbuch zu bebildern.
Die Musik in RETROSPEKT betont den märchenhaften Charakter, den der Film hat. Die exzessiv opernhafte Musik ist romantisch, absurd und dramatisch. Sie erzählt eine parallel ablaufende emotionale Entwicklung und setzt Humor ein, um Abstand zu schaffen – in Momenten, in denen das Publikum oder Mette ein wenig Raum oder Zeit zum Nachdenken brauchen. Zu Geesins intuitiver Kunst gehört auch seine Fähigkeit, gleichzeitig eine emotionale Verbindung zum Publikum und zu Mettes Entwicklung aufzubauen.
Themen
Unsere Raison d’Être
Angesichts der abnehmenden Bedeutung religiöser, politischer und familiärer Werte für unsere individualistische Gesellschaft müssen wir unsere Daseinsberechtigung aufs Neue und in uns selbst suchen. Wenn alles möglich scheint, geht damit immer potenzielle Sinnlosigkeit einher. Dieses vage, quälende, dabei deutlich erkennbare aktuelle Gefühl von Unruhe manifestiert sich in zahlreichen Facetten des Lebens und ist verdeckt von einer dicken Schicht aus täglichen Vorgaben, Prioritäten und den Verkörperungen des Erfolgs.
Bei Mette manifestiert sich diese Unruhe in ihrem Bedürfnis nach Kontrolle – und genau diese verliert sie im Lauf des Films mehrfach.
‚Jetzt‘ versus ‚Rückblick‘
Der größte Feind unserer sorgfältig gesetzten Prioritäten und unserer Kontrolle über unser Leben ist vielleicht die Zeit. Das Unerwartete kann die Sinnlosigkeit eines gut ausgearbeiteten Plans enthüllen, oder die Millisekunde, die alles verändert. RETROSPEKT spielt mit dieser Absurdität, indem ihr im Film selbst und innerhalb seiner Struktur eine zentrale Rolle gegeben ist. Dieses Spiel mit der Zeit ist ein wesentlicher Teil der Erfahrung, die das Publikum mit RETROSPEKT macht. Die nichtlineare Chronologie, in der der Film erzählt ist, ist eine Notwendigkeit, die ein Gefühl von Verschiebung und Orientierungslosigkeit zur Folge hat, die essenziell für die Wahrnehmung von Mettes Perspektive ist. Dieser reale Rahmen lässt Mette pendeln zwischen dem, was sie war, was sie ist und dem, was sie sein möchte, aber nicht sein kann.
Mutterschaft und die daran geknüpften gesellschaftlichen Erwartungen
Der Film handelt auch von der Selbstverständlichkeit, mit der von Müttern und von Frauen ganz allgemein bedingungslose mütterliche Liebe erwartet wird. Für manche Mütter sind Babys nicht ihr ein und alles. Dieser Umstand wird allzu oft mit der postnatalen Depression verwechselt; diese habe ich bewusst nicht im Film thematisiert, weil dies implizieren würde, dass man Frauen, die nicht augenblicklich und Hals über Kopf in ihre neugeborenen Kinder verliebt sind, nur als Opfer eines hormonellen Ungleichgewichts betrachten kann. In meinen Augen ist das eine vereinfachende und überholte Auffassung, die auf gesellschaftlicher Ebene – und zwar weltweit – überdacht werden sollte. (Esther Rots)