Radikale Zartheit: Ronald M. Schernikaus Prosatext
Nachdem ich die Erzählung „So schön“ von Ronald M. Schernikau entdeckt hatte, die meinem Film zugrunde liegt, setzte sich der Text in meinem Unterbewusstsein fest. Sie wurde in einer Zeit, in der ich mein Verhältnis zu meinem Körper und die politische Situation um mich herum als zunehmend unerträglich empfand und mich neu ausrichtete, zu einem Referenz- und Orientierungspunkt. Jahre später wurde mir klar, dass ich, um meine Schuld an Schernikaus Text zu begleichen, den Dialog zwischen dem Buch und mir in Form eines Films fortsetzen wollte. Auf diese Weise würde ich versuchen, mich mit einem wichtigen Menschen auszutauschen, dem ich, seinem vorzeitigen Tod geschuldet, niemals persönlich würde begegnen können. Ich entschied mich für eine Vorgehensweise, die eher einer Übersetzung und Transponierung des Textes als einer klassischen Verfilmung gleicht: Ich übernahm Schernikaus Erzählung und ließ meine Interventionen darin einfließen. Wenn die Erzählung grob Schernikaus Leben, seine Lieben und seine politische Haltung dokumentiert, so machte ich grob das Gleiche mit einem Spielfilm, der Richtung Dokumentation geht, anders als in meinem letzten Film, einer Dokumentation, die sich der Fiktion näherte. Der Film bietet so einen Ort für eine kontinuierliche Erkundung der gesellschaftlichen und künstlerischen Praxis Schernikaus wie der meiner Schauspieler*innen.
Ich habe versucht, sowohl die aktuellen Spannungen in den USA als auch die in der Erzählung beschriebenen in den Film mit aufzunehmen und den Prozess der Adaption transparent zu machen. Am Dringlichsten schien mir jedoch, die überwältigende Zartheit und Schönheit von Schernikaus Erzählung im Film zu zeigen, die Sorgfalt, mit der darin Gesten und Formen der (Selbst-)Darstellung beschrieben werden, und nicht zuletzt die Fähigkeit dieses Textes verdeutlichen, in all dem ein Setting für eine utopische Praxis im aktuellen Hier und Jetzt auszumachen. Weil dieses Verfahren heute fragil scheint, habe ich einen bewusst ‚oberflächlichen‘ Film realisiert.
Ich möchte damit den Aspekt einer sinnenfreudigen Gemeinschaft betonen, die diesem Begriff innewohnt und die vom dominanten, kapitalistischen Verständnis der ‚Tiefe‘ totgesagte Oberflächlichkeit als wichtigen, realen und kraftvollen Grundstock neuer sozialer Beziehungen etablieren. Ich habe versucht, einen offenen und einladenden Film herzustellen, dessen Struktur sich an den rhythmischen, sich ständig wiederholenden Mustern von Tanzmusik orientiert und die alltägliche Choreografie der Körper als Ausgangsmaterial nimmt. Meine Hoffnung ist, dass mein Film mithilfe einer gewissen ‚Schönheit‘ das Verlangen nach einer neuen Art des Seins, nach Konturen neuer Körper, eines neuen Ichs und neuer Beziehungen ermöglichen kann.
Letztlich ist der Film natürlich auch ein Liebesbrief, dem – so hoffe ich – auch andere Zuschauer*innen etwas abgewinnen können. Auch wenn SO PRETTY für mich als Transgenderfrau ein Coming-out-Film ist, so reicht er darüber jedoch hoffentlich hinaus, indem er das utopische Potenzial in den verschiedenen Formen von Körperlichkeit und Körperbewegung lokalisiert, trotz oder innerhalb des Horrors im Hier und Jetzt, den Schernikau so radikal postulierte – damit auf diese Weise auch anderen die politischen und persönlichen Türen geöffnet werden, die sich für mich geöffnet haben. (Jessie Jeffrey Dunn Rovinelli)
Gespräch mit Jessie Jeffrey Dunn Rovinelli: „Es ist eine Art, sich dem Schrecken zu stellen“
Daniel John Johnsson: Der Film basiert auf dem Kurzroman „So schön“ von Ronald M. Schernikau.
Jessie Jeffrey Dunn Rovinelli: Das Buch fiel mir während eines Besuchs bei Thomas Love in die Hände, der in SO PRETTY mitspielt. Auch wenn Thomas’ Deutschkenntnisse nicht besonders gut sind, war er sich sicher, dass der Roman mich ansprechen würde – also kaufte ich mir das Buch.
Existiert eine englische Übersetzung davon?
Bislang wurde der Text noch nicht ins Englische übersetzt, aber wir hoffen, dass der Film eine mögliche Übersetzung befördert. Meiner Meinung nach ist diese Erzählung bemerkenswert zeitgenössisch, vor allem in der Art, wie sie die jeweiligen persönlichen Stile und Haltungen der Protagonisten mit Politik und Queerness in Verbindung bringt. In gewisser Weise ist die Arbeit an diesem Film mein Versuch, das Buch zu übersetzen: auf meine eigene Art, in meine Zeit, an den Ort, an dem ich lebe, und für meine genderspezifische Situation.
Was hat dich an dem Buch besonders angesprochen?
In den kleinen Beschreibungen von Schernikau fand ich etwas, das in mir nachhallte. Seine präzisen Schilderungen einzelner Figuren, die in Türrahmen stehen, Kaffee trinken, auf ganz bestimmte Weise ihr Handgelenk halten oder ihre Haare tragen. Mich beeindruckte das feine Wechselspiel zwischen den kleinen, sehr präzise geschilderten Gesten und dem Zwischenmenschlichen und Politischen. Es erinnert mich an die Art, wie ich durch die Welt zu gehen versuche, und an das, was mich in meinem Alltag anregt. Es ist ganz zart, aber gleichzeitig auch politisch engagiert.
Etwas von diesen Gesten setzte sich bei mir fest und diente mir als Orientierungshilfe für mein eigenes Leben, aber auch in Momenten, in denen ich beim Nachdenken über meinen nächsten Film nicht weiterkam. Immer wieder wandte ich mich dem Text zu. Ich war traurig, dass es keine übersetzte Fassung gab und meine Freunde es nicht lesen konnten. Der Film ist meine Art, diese Erzählung meinem Umfeld zugänglich zu machen.
Für diejenigen, die den Roman nicht kennen: Worum geht es darin?
Die Handlung ist sehr einfach. Im Zentrum stehen vier schwule Kommunisten in Westberlin in den 1980er-Jahren, die tanzen gehen, sich unterhalten und politisch aktiv sind. Es gibt kleinere emotionale Dramen zwischen den beiden Paaren sowie einen Zwischenfall während einer Demonstration. Alles kommt zu einem guten Ende. Es ist eine simple Geschichte, aber die kleinen Momente des Buchs beeindruckten mich sehr.
In welcher Weise wird sich der Film vom Roman unterscheiden?
Wir weichen ein wenig von der Vorlage ab, nicht so sehr in Bezug auf die Handlung als vielmehr im Hinblick auf die Herangehensweise und die Figuren. So haben wir Schernikaus ursprünglichem Figurenensemble – cis-schwule weiße Männer – Menschen anderer Hautfarbe und Trans-Menschen hinzugefügt und den Themenschwerpunkt von Homosexualität auf Feminität verlagert. Auch das Buch selbst ist Bestandteil des Films und wird dadurch zu einer Art Ikone, die wir gleichzeitig hinterfragen. Selbstverständlich spielt auch die künstlerische Praxis meiner Schauspieler*innen eine große Rolle, ihre Musik und ihre Bilder.
Die Handlung im Buch spielt in Berlin, und ich gehe davon aus, dass ihr in New York drehen werdet. Inwiefern wird der andere Spielort, aber auch das heutige Umfeld die ursprüngliche Geschichte verändern?
Der Film enthält nur wenige Szenen, die in Berlin spielen, hauptsächlich haben wir in New York gedreht. Wir können nur vor dem heutigen, präfaschistischen Hintergrund drehen, in dieser Stadt mit ihren aktuellen Besonderheiten im Hinblick auf Themen wie Sex, ethnische Zugehörigkeit und Gender. Ich bin keine Historikerin, über Berlin in den 1980er-Jahren weiß ich nur, was ich der Erzählung entnommen habe oder was mir Leute erzählt haben, die damals in Berlin gelebt haben. Nach meiner Auffassung beschäftigt sich der Film unter anderem mit der Frage, wie die damalige Geschichte über den Atlantik in die USA gelangte, in welcher Weise das Damals mit der heutigen Situation zusammenhängt und inwiefern es uns als eine politische und queere Strömung von vielen begleitet. Damals scheint es jedoch ein ähnliches Verlangen nach Tanz, Selbstentfaltung und der Imagination von etwas Besserem gegeben zu haben wie heute.
Worin besteht für dich der besondere Wert dieses Textes?
Heutzutage kann man leicht die Hoffnung verlieren. Mich bringen viele Dinge zur Verzweiflung, und der Untertitel des Buchs – „Ein utopischer Film“ – bedeutete mir viel. Schernikau hatte das Buch sowohl als eine Art Drehbuch wie auch als eine Utopie über die Niederungen der heutigen Situation geschrieben. Als mein Leben auseinanderzufallen drohte, hielt ich mich an der Erzählung fest. Es fällt mir zwar schwer, aber ich versuche, seinen Impuls ernst zu nehmen und künftige Möglichkeiten genau jetzt wahrzunehmen, nicht erst später. Das geht auf jeden Fall, zumindest versuche ich es in meinem Film. Man muss noch nicht einmal alles Schreckliche ausblenden. Es ist viel mehr eine Art, sich dem Schrecken zu stellen.
Hat der Roman eine Rolle im Zusammenhang mit deiner Gender-Transition gespielt?
Ja. Dass die Figuren des Romans keine Transfrauen waren, war für mich unerheblich. Es fällt mir schwer es zu erklären, weil ich nicht schwul bin oder war, aber weil dieser Text das Thema Feminität so leicht und zwanglos behandelt, vermittelte er mir etwas Freudvolles und verschaffte mir einen Freiraum innerhalb der queeren Community, die mich dazu aufforderte, mein Frausein in sehr spezifischer Weise auszuagieren, um anerkannt zu werden. In gewisser Weise konnte ich erst damit aufhören, ein Mann zu sein, als es keine Rolle mehr spielte, ob ich ein Mann war oder nicht. (...) Der Film will auch zeigen: Dass wie man aussieht, wie man handelt und sich um andere kümmert, weit wichtiger ist als das Geschlecht, das man hat. Ich hoffe, dass dieser Film anderen Frauen wie mir eine Tür öffnen wird.
(Daniel John Johnsson, www.qanda.nu/jessie-jeffrey-dunn-rovinelli-(eng)-40296465)