Das Mannheim-Projekt
Der erste Drehtag zu YEARS OF CONSTRUCTION war Samstag, der 17. August 2013, der letzte ein Dienstag, 12. Juni 2018. Als ich mich auf Vorschlag von Ulrike Lorenz, der Direktorin der Kunsthalle Mannheim, für das Projekt entschied, wusste ich nicht, wer die ausführenden Architekten sein würden. Es war mir auch egal, weil mich als Kern des Projekts der Prozess des Bauens reizte, der des Renovierens, des Niederreißens und des Wiederaufbauens sowie die notwendigen Wiederholungsschleifen einer begleitenden Betrachtung.
Alle drei Aktivitäten, die Bewahrung und Herrichtung des Billing-Baus von 1907, der Abriss des Mitzlaff-Baus von 1983 samt Zertrümmerung des darunterliegenden Tiefbunkers aus der Nazizeit und der Neubau des Museums durch gmp aus einer geglätteten Baugrube hervor, sind in dem Film enthalten. Man sieht das Vorher und das Nachher, von einer letzten Ausstellung im Altbau bis zu der ersten Einrichtung von Kunst im Neubau in chronologischer Abfolge. Das heißt auch, dass Vorher und Nachher in dreiundneunzig Minuten zusammengerafft und vergleichbar werden und nicht in nebulösen Zeitfenstern verschwinden. Dazu kamen Ausflüge in die städtische Umgebung, in deren Verkehr wir uns treiben ließen. Die Stadt Mannheim leistet sich einen Ort der Kontemplation und Meditation, der in aller Ruhe und Aufregung errichtet wurde, während um ihn herum die Geschäfte weitergingen. Dass die Idee hinzukam, diese Bauaktivität beobachten und dokumentieren zu lassen, war eine rühmliche Ausnahme. Städtische Archive und Sammlungen weisen oft nur Zufallsfunde auf und werden selten als Produzenten von Dokumentationen aktiv. Das Fernsehen und die öffentlichen Filmförderungen sind wegen ihrer Produktionsabläufe und Regularien dazu meist nicht in der Lage und mancherorts auch nicht willens, diese Aufgabe zu übernehmen. Insofern musste hier eine in Auftrag gegebene künstlerische Forschung die Lücke schließen. Für diese Möglichkeit bin ich dankbar, weil ich denke, dass die Dokumentation gestalteter Räume und Oberflächen dieser Welt in der Lage ist, das Geheimnis des menschlichen Geistes und seiner Aktivitäten zu offenbaren.
Sehen ist immer auch eine Grenzerfahrung. In der fünfjährigen Drehzeit von YEARS OF CONSTRUCTION gab es dreizehn Drehphasen von zwei bis drei Tagen Dauer. Im selben Zeitraum fertigte ich fünf lange und drei kurze Filme und etliche Musikvideos an, hinzu kam eine einjährige schwere Krankheit, die meine Arbeit behinderte. Das Mannheim-Projekt begleitete also den prinzipiellen, aber auch krisenhaften Abschluss meiner Serie von Architekturfilmen, und nach einer fünfundzwanzigjährigen Pause ein neues Interesse an avancierten Formen filmischen Erzählens. Ich glaube, dass der vorliegende Film auf vermittelte Weise auch diesen Wechsel widerspiegelt. Er gewährt einen Raum zum Denken und für notwendige Veränderungen. ‚Changing of the guards‘ war schon immer mein Motto. Langzeitprojekte kommen in filmischen Biografien eher selten vor, es sei denn, man sieht eine gesamte Filmografie als ein Langzeitexperiment an, mit vielen Verbindungslinien und ungewissem Ausgang. Ich neige dieser Einstellung zu. (Heinz Emigholz, Photographie und jenseits – Teil 29)
Die allmähliche Verfertigung von Räumen beim Bauen
Es war im Spätherbst 2012, als ich Heinz Emigholz in der Zwinger Galerie in Berlin zum ersten Mal traf. Mich hatte das wilde Wuchern und die ikonografische Textur seiner Zeichnungsserie wie ein Blitz getroffen. Diese luzide Dialektik aus popkultureller Welthaltigkeit der Splitter und hermetischem Sinnentzug im Ganzen bei klarster Linienqualität war mir nirgendwo sonst begegnet. Die Architekturfilme konnte ich zu diesem Zeitpunkt nur im bewussten Vorbeisehen, von dem Paul Valéry spricht, wahrnehmen. Es war mir nicht möglich, die wortlos lautreiche Bilddichte zu durchdringen; mein Blick glitt an vorüberziehenden Oberflächen ab. Erst als plötzlich die Stimme des Autors sich in der Eingangssequenz des Films SCHINDLERS HÄUSER über einer anonymen Straßenkreuzung in Los Angeles erhob, rastete etwas ein. Da das beginnende fokussierende Suchen nicht mit der Auffindung einer signature architecture belohnt wurde, setzte mentale Sogwirkung ein. Von nun an folgt mein eigenes denkendes Sehen jenen lebendig sich herantastenden Sichtachsen, die Emigholz seit über vierzig Jahren mit seiner Kamera wie Tunnel in die gebaute Realität treibt.
In Mannheim sollte für das über einhundertjährige Museum moderner Kunst eine neue Fassung gefunden werden. Ich konnte die privaten Stifter des Unternehmens überzeugen, das antizipierte Filmprojekt von Heinz Emigholz ebenfalls zu finanzieren. So spreche ich den Künstler rundheraus an. Er antwortet mit souveräner Indifferenz. Meine Vorstellung ist der Auftrag zu einem bis dato undenkbaren Langzeitprojekt, das Lebensenergie und Arbeitszeit fressen wird. Dann besucht Emigholz Mannheim. Ich habe mir in den Kopf gesetzt, das Kunsthallenprojekt am schönsten Platz dieser im Zweiten Weltkrieg traumatisch zerbombten Stadt im urbanen Zusammenhang zu verankern. Den magischen Schindler-Moment im Hinterkopf, führe ich Heinz zu den anonymen Betonwucherungen vor Ort, die mich seit 2009 am meisten beeindrucken: den dröhnenden Verkehrsknotenpunkt am westlichen Rand des Stadtzentrums und das dampfende Steinkohle-Großkraftwerk am Rhein, auf das man sich mit einer Fähre zutreiben lassen kann wie auf eine Science-Fiction-Festung. Erst später wird klar, dass dies nicht nur der Strömung der Emigholz‘schen Filmografie zuarbeitet, sondern auch unserem Fahrt aufnehmenden Museumskonzept „Stadt in der Stadt“.
Heinz lässt sich darauf ein. Das losgetretene Experiment – als Sequenz aus gleichartigen Arbeitsschritten minutiös geplant – entfaltet ästhetischen Eigensinn. Der Film beobachtet erstmals keine schon gestalteten Räume, sondern die allmähliche Verfertigung von Räumen beim Bauen. Der Regisseur zerlegt zwar die dreidimensionale Realität weiterhin in filmische Einstellungen, die er in seiner Projektion neu konstruiert, aber diese Gestaltung zweiter Ordnung wird überlagert vom Bauprozess selbst, der unerwartet narrative Spannkraft freisetzt. Das potenziert in gewisser Weise die Energiefelder, unter deren Einfluss die Fotografie eines sich über fünf Jahre hinweg total transformierenden Ortes stattfindet. Emigholz verschraubt in dem Film YEARS OF CONSTRUCTION nicht nur Raum fotografisch, sondern mit diesem auch die vierte Dimension des gefilmten Prozesses. Die konstruierten Bilder der sich konstruierenden Realität, linear angeordnet, schichten sich im Akt des Sehens und Erinnerns aufeinander. So formt der Film aus den Baujahren einer entstehenden Architektur im Raum eine „imaginäre Architektur in der Zeit“. Sie versetzt den Betrachter im Kinoraum in den oszillierenden Modus einer antwortenden Projektion: „Das Auge als Schnittstelle zwischen Gehirn und Außenwelt, der Blick eine komponierende Kraft, die eine Idee nach außen stülpt, in der Realität gespiegelt vorführt und sie mit den Mitteln der Kinematografie begreift.“ (Ulrike Lorenz, Baujahre – Kunsthalle Mannheim 2013 – 2018)