Die Lage im Jahr 2034
Der Film DER GROSSE VERHAU spielt nach der Zertrümmerung der Erde. Sieben galaktische Revolutionen sind fehlgeschlagen, sechs Raumkriege gingen verloren. Trotzdem sieht die Situation nicht so aus wie in George Orwells „1984”. Gerade der Weltmonopolist, die Firma Suez-Kanal-Gesellschaft, zieht ihre Gewinne nicht aus dem toten Papiermaterial der Aktien, sondern aus der lebendigen Arbeit, insbesondere der Kleinunternehmer, die den Weltraum durchfahren.
Es sind diese Kleinen, die die Entwicklung vorwärtstreiben durch ihren tiefen Glauben an die Auswertungsmöglichkeiten des Weltalls.
Sie leben nach der Devise: „In zwei Jahren ist alles aus“. Nach dieser Devise leben sie ewig. (...)
Thema des Films ist der Widerspruch zwischen ungeheurer „Weite und großem Reichtum des Weltalls und der besonderen Enge der Verwertungsformen, in denen die Menschen leben müssen.
Man fragt sich, warum die Menschen (insbesondere auch die Bewohner der galaktischen Reichshauptstadt, die in ihren Bunkern sitzen) immer noch mitmachen. Einige haben jetzt schon die Hoffnung verloren. Andere hoffen aber immer noch, etwas vom Reichtum für sich abzufangen. (...) (Alexander Kluge)
Zwei Bayern im Weltraum. Gespräch mit Alexander Kluge
Florian Hopf: Worum geht es in DER GROSSE VERHAU?
Es geht um die Abenteuer von Kleinunternehmern im Weltall zu einer Zeit, in der das Großmonopol absolut herrscht. Es geht also um eine gesellschaftliche Situation.
Wie sieht denn diese Gesellschaft aus?
Es ist eine Ausbeutungsgesellschaft. Die zu Kleinunternehmern gewordenen Arbeiter sind die Pioniere für die Weiterentwicklung der Monopole. Sie ackern wie die Wilden. Haben sie Erfolg, werden sie aufgekauft. Das Risiko für die vielen Mißerfolge, die dem Erfolg vorangehen, tragen sie selber. Was also auch immer geschieht, sie verlieren immer.
Auf welchen Erfahrungen beruht Ihr Film?
Erfahrungen über die Technik im Jahre 2034 habe ich ebensowenig wie Wernher von Braun. Ich kann aber ein gesellschaftliches Modell entwickeln. Das Modell muß nicht im Jahre 2034 existieren. Es kann z.B. auch ganz andere Entwicklungen geben, wie sie z.B. Mao Tse Tung erwartet. Wenn aber die „spätindustrielle Gesellschaft“ dann noch existiert, dann wird sie den Widerspruch zwischen Kleinunternehmern und hochorganisierten Monopolen kennen und verschärfen, d.h., wir selber haben Erfahrungen über diese Gesellschaft.
Die Monopole würden als „Verwertungsgesellschaft Mensch“ funktionieren?
So wie die Gema die Töne verwaltet. Selbstverständlich entziehen sich die kreativen Eigenschaften, die konkreten Menschen dieser Zwangsverwaltung. D.h., das wirkliche Leben geht unterhalb des von der Wirtschaft vorgeschriebenen Gesetzes weiter. Daß sich die Weltgeschichte immer wieder wiederholt, ist nur Schein. In Wirklichkeit ändert sie sich unterirdisch unablässig. Das äußere Bild sieht paradox aus: wenn das Weltmonopol (unter anarchischen Produktionsbedingungen) einmal gebildet ist, ist nicht Ordnung, sondern Bürgerkrieg die Folge (siehe auch Brechts „Flüchtlingsgespräche“).
Aber diese Prozesse kann man doch eigentlich nicht sehen.
Unsere sinnliche Erfahrung ist immer die von einzelnen Menschen. Wir werden aber geleitet oder lassen uns leiten von der Erfahrung, die ein kollektives Produkt aller Menschen ist. Dafür gibt es kein Auge, es sei denn: der gesellschaftliche Blick. Nur er kann das Ganze der Gesellschaft und das Wesentliche, das über uns bestimmt, fassen. Die Vermittlung zwischen unmittelbarer, sinnlicher Erfahrung, die das einzige ist, was wir haben, und der gesellschaftlichen Erfahrung, die dasjenige ist, was wir brauchen, ist das eigentliche aktuelle Thema der heutigen ästhetischen Produktion, die man als organisierte menschliche Erfahrung bezeichnen kann. (...)
Warum herrscht in DER GROSSE VERHAU eigentlich Krieg, und woher kommt der Feind?
Die Kehrseite einer totalen Beherrschung ist der Bürgerkrieg. Das ist ein gesellschaftliches Gesetz, das auf den ersten Blick dogmatisch klingt. Es enthält aber mehr Erfahrung als George Orwells „1984“, in dem so getan wird, als könnte der Große Bruder die Massen total beherrschen und gleichzeitig noch einen differenzierten industriellen Prozeß aufrechterhalten. In Wirklichkeit produziert dieser industrielle Prozeß soviel gesellschaftlichen Reichtum, soviele Auswege, soviel Widerspruchsgeist, daß der Versuch einer totalen Beherrschung zur Explosion führt. Das schließt nicht aus, daß die Beherrschung immer wieder versucht wird. Die Gegenreaktion der konkreten, lebendigen Interessen ist Opposition. Diese wird bewaffnet niedergeschlagen. Die Antwort ist bewaffnete Gegenwart, d.h. Bürgerkrieg. Die Unterdrückung von Interessen auf industriellem Niveau bringt Bürgerkrieg. Da das System dabei Freund und Feind nicht wirklich unterscheiden kann, macht es sich auch Teile von sich selbst zum Gegner. In diesem Zwangszusammenhang gibt es keinen Außenfeind, den man einfach nur besiegen muß. Sondern die menschliche Gesellschaft kämpft gegen ihr eigenes Bild.
Bei Ihrem Film geht es weniger um eine Geschichte, als um Situationen?
Ein Klettergerät auf einem Kinderspielplatz hat auch keine Handlung, sondern ist eine Gelegenheit für körperliche Arbeit. Man könnte den Film so benutzen, daß die Phantasie sich in ihm bewegen, die eigene Erfahrung sich in den Situationen wiedererkennen kann. Und zwar beim Science-fiction-Film unbelastet von den Grenzen, die die Realität unserer Phantasie zwingend setzt. Deshalb appelliert der Film nicht an den Zuschauer, Partei zu ergreifen, sich zu entscheiden, ein moralisches Urteil abzugeben (alles das kann er ja als Zuschauer eigentlich gar nicht), sondern er soll mit Hilfe des Films seine eigenen Erfahrungen reicher machen.
(Infoblatt Nr. 12, 1. Internationales Forum des jungen Films, Berlin 1971)