Rachids Reise
„Wir sind diejenigen, die ihr Dorf verlassen und die Stadt nicht gefunden haben.“ Das ist das zentrale Thema des schönen Films, den Annie Tresgot den ‚Reisenden‘ gewidmet hat, den algerischen Emigranten, die unter uns leben und arbeiten. Hunderttausende von Menschen, die durch die jüngste Geschichte, einen siebenjährigen Krieg, eine bestimmte politische Entscheidung und wirtschaftlichen Druck vorübergehend mit uns verbunden sind.
Ein doppelter, zugleich gewollter und nur erduldeter Vertrag, dessen unklarer Charakter ebenso sehr aus der gegenwärtig betriebenen heimlichen Ausbeutung, den wiederholten Beschuldigungen sowie aus einer allzu schweren Vergangenheit resultiert.
Die Autorin des im Rahmen der Internationalen Woche der Kritik präsentierten und von der ORTF (Office de Radiodiffusion Télévision Française, von 1964 bis 1974 die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt Frankreichs; Anm. d. Red.) ins Programm genommenen Films, hat ihr Thema (...) auf einer Person aufgebaut: Rachid kommt aus Bougie (heute Bejaia, Hafenstadt in der algerischen Region Kabylei; Anm. d. Red.) zu seinem Vater, einem Tagelöhner in Aubervilliers, um ihn an der Stelle abzulösen, die man die ‚französische Arbeitsfront‘ nennen könnte. So ermöglicht er es ihm, in die Kabylei zurückzukehren.
Die Reise, die Entdeckung von Paris, die Begegnung mit dem Onkel und den Vettern aus dem nördlichen Vorort, die Arbeitssuche, die Koexistenz mit den Portugiesen, das Umherirren zwischen Clignancourt und La Chapelle, die Beziehungen zum Polier, die Dachkammer, die Ufer trüber Kanäle und der Regen am Stadtrand – in das Ganze kurze Sequenzen mit Gewerkschaftlern im Krankenhaus, mit Kindern hineinmontiert, die aus der Ferienkolonie ins Land zurückkommen: all das atmet die einfache Wirklichkeit, die Hektik der Tage, den durchschnittlichen Druck des All- täglichen.
Was erfährt man, was man nicht schon wüßte oder geahnt hätte? Zumindest dies eine: daß diese Emigranten die Brücken nicht hinter sich abgebrochen haben, oder das wenigstens nicht glauben, daß sie sich hier wirklich als ‚Durchreisende‘ fühlen, daß der Aufenthalt in Frankreich von ihnen als etwas Vorläufiges, Vorübergehendes betrachtet wird.
Ein Plädoyer für eine These? Nichts dergleichen. Alle im Film behandelten Motive illustrieren nur die Sehnsucht und die Ungeduld, in die Heimat zurückzukehren, das Gefühl anders zu sein, des Exils, der Frustration. Der Film von Annie Tresgot ist keineswegs eine pointierte Anklage: Die Prüfungen, denen der Protagonist unterworfen wird, sind durchschnittlicher Art, und die Hauptperson, der Politik und Gewerkschaft fremd sind, übermittelt keinerlei Botschaft und trägt mehr Lebensüberdruß als Lebenslust zur Schau. Aber dieses genau dosierte, individuelle, heimliche Mißgestimmtsein sagt vielleicht mehr als eine politische Versammlung. „Den Rassismus“, sagt irgendwo ein militanter Gewerkschaftler, „verdanken wir den Intrigen der Herrschenden.“ Man würde es gern glauben. Aber der Film sagt nichts dergleichen. Er zeigt viel mehr Einsamkeit als Bosheit, beschreibt weniger eine grausame als eine verschlossene, verbarrikadierte Welt. Vielleicht wird Rachid jenseits seiner persönlichen Bitterkeit die kollektiven Kämpfe entdecken und Sippe, ethnische Komplizenschaft und die Kameraderie der Straßencafés hinter sich lassen. Der Film zeigt, wie Rachid sich zögernd von den Regeln, den Tabus, den Verboten befreit. Immer weniger schert er sich um diesen Aspekt väterlicher Autorität oder jene religiöse Tradition. Anders verhält es sich mit der Bindung an sein Land. Was er in Frankreich gelernt hat, ist – und das war ein beschwerlicher Weg – ein Arbeiter zu sein. Aber auch, sich als Algerier zu fühlen.
(J. L., Le Monde, Paris, 17.6.1971, Infoblatt Nr. 24, 1. Internationales Forum des jungen Films, Berlin 1971)