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35 mm, 123 Min. Japanisch.

Der Untergang des Hauses Sakurada nach dem Zweiten Weltkrieg: Oshima schildert dies als Erinnerungen seiner Hauptfigur Masuo an eine Reihe von rituellen Familienzusammenkünften, die zunehmend absurder werden, um schließlich auseinanderzufallen. Der Film verlässt selten die dunklen, kargen Räume dieser Festlichkeiten, wir sehen nichts von einem Japan außerhalb dieser Familie. Die Moderne aber schleicht sich von allen Seiten ein und birgt Optionen und neue Sichtweisen, die das starre Korsett der Tradition sprengen müssen. Gishiki ist in seinen bühnenhaften Anordnungen ein kinematographisches Spiel mit Thema und Variation und erzählt so von den größeren generationellen Umbrüchen in Japan. Oshima blickt vor allem auf die psychischen Leiden der jüngeren Generation, die er in für ihn typischer Weise mit einer Mischung aus Empathie, Überzeichnung und analytischer Distanz beschreibt. (ab)

Nagisa Oshima wurde 1932 in Kyoto (Japan) geboren. Nach einem Studium der Politikwissenschaft an der Universität Kyoto arbeitete Oshima ab 1954 als Regieassistent beim japanischen Studio Sochiku. Seine erste Regiearbeit Ai to kibo no machi folgte 1959. Als Vertreter der Japanese New Wave (Nūberu bāgu) prägte er maßgeblich das japanische Nachkriegskino. 1961 gründete er seine eigene Produktionsgesellschaft Sozosha. Neben Kinofilmen realisierte er mehrere Dokumentarfilme für das japanische Fernsehen. Nachdem er sich in den 1950er-Jahren bereits als Filmkritiker betätigt hatte, publizierte Oshima in den folgenden Jahrzehnten kontinuierlich und trat verstärkt im Fernsehen auf. Sein Œuvre umfasst mehr als 20 Filme und mehr als 15 Fernsehproduktionen. Oshima starb 2013.

Japan und der Japaner in mir

Es ist etwa zwei Jahre her. Susumu Hani (japanischer Filmregisseur und Drehbuchautor; Anm. d. Red.) lebte in Paris, um einen Film in Europa zu drehen. Er sagte mir damals einmal, daß er sich mehr als Mensch empfinde denn als Japaner. Deshalb habe er auch keinerlei Schwierigkeiten, in einem fremden Land mit Ausländern einen Film zu machen. Ich erwiderte, das sei für mich undenkbar. Da ich vollauf damit beschäftigt bin, ein Japaner zu sein, wüßte ich nicht, wie ich einen Film machen sollte, der nicht die Japaner zum Gegenstand hat, der es nicht unternimmt herauszufinden, wie wir sind.
Auch mein nächster Film steht in dieser Perspektive. Er beschäftigt sich mit einem Japaner meiner Generation und untersucht, wie er in den 25 Jahren, die seit dem Krieg vergangen sind, gelebt hat. (...)
Der Held meines Films wird Masuo heißen, ein gängiger Name für einen Jungen, der in jener Zeit in der Mandschurei geboren wurde (zur Zeit des Ausbruchs des Zweiten Japanisch-Chinesischen Kriegs und der japanischen Invasion in China; Anm. d. Red.), denn er enthält die Schriftzeichen des Wortes Mandschurei und bedeutet ‚Mann aus der Mandschurei‘. Die Handlung setzt ein, als Masuo und seine Mutter aus der Mandschurei zurückkehren, ein Jahr nach der Niederlage der Japaner. (...)
Obwohl mein Film zweifellos die Geschichte seines Helden, seiner Neigungen und Abneigungen über 25 Jahre hin darstellt, bezieht er zwangsläufig auch die Geschichte Japans, seiner Erholung von der Niederlage, seiner Prosperität und seiner gegenwärtigen angeblichen Remilitarisierung ein. Die Frage ist, ob und inwieweit das japanische Volk sich im Verlauf dieser geschichtlichen Spanne verändert oder nicht verändert hat, und wie es den Übergang in die Zukunft bewerkstelligen wird. Natürlich konnte ich diese Fragen nicht alle in einem einzigen Film beantworten. Mein Film wird nur meine persönliche Antwort auf diese Fragen sein, ein klinisches Beispiel sozusagen. Und zum gegenwärtigen Zeitpunkt bin ich geneigt zu antworten, daß sich das japanische Volk, wenn man oberflächliche Aspekte einmal beiseite läßt, im Grunde kaum verändert hat. (...)

(Nagisa Oshima vor den Dreharbeiten, Tokio Shimbun, 18.1.1971)

Weshalb die Zeremonien?

Wenn mein letzter Film ER STARB NACH DEM KRIEG (Amn.: TOKYO SENSO SENGO HIWA, 1970) meine persönliche Untersuchung des Todesproblems im Jahre 1970 war, ein Versuch, mich als Filmautor zu definieren, so ist GISHIKI eine Erforschung der Gegenwart des Jahres 1971, ein Versuch, die Totalität meiner Existenz und meiner Gefühle im Verlauf der 25 Nachkriegsjahre Japans zu begreifen.
Die Studentenbewegung erreichte ihren Höhepunkt in den Jahren 1968 und 1969 und ließ in den folgenden Jahren nach. Ich bin der Meinung, daß Japan diese Ruhepause nutzen muß, um eine Bilanz des Vierteljahrhunderts nach dem Krieg zu ziehen. GISHIKI ist mein eigener bescheidener persönlicher Versuch einer solchen Abrechnung.
Aber weshalb Zeremonien? Weil mir scheint, daß die Japaner während dieser Feierlichkeiten von bestimmten Empfindungen beherrscht werden, die oft ohne Beziehung zu ihrem täglichen Leben sind. Zeremonien lassen die besonderen Eigenheiten der japanischen Seele hervortreten. Und diese Seele beschäftigt und beunruhigt mich ebenso wie meine eigene Seele, die bei solchen Gelegenheiten ins Wanken gerät.
Im täglichen Leben kann man intellektuell und gefühlsmäßig den Militarismus und den fremdenfeindlichen Nationalismus leicht zurückweisen. Aber in einer nicht alltäglichen Situation gelingt es diesen Kräften, sich der japanischen Seele auf ebenso einfache wie beunruhigende Weise zu bemächtigen.

(Nagisa Oshima nach den Dreharbeiten, Infoblatt Nr. 15, 1. Internationales Forum des jungen Films, Berlin 1971, Download PDF)

Zerfall einer Familie und eines Landes

GISHIKI ist die Chronik einer japanischen Großfamilie zwischen 1946 und 1971, dargestellt an den Festen, bei denen sich alle Familienmitglieder treffen, den Hochzeiten und Beerdigungen. Zugleich ist GISHIKI Reflex der Geschichte Japans in den letzten 25 Jahren. Oshima zeigt den Zerfall einer Familie, eines einst starken Geschlechts, das mehr in Haß als in Liebe aneinander gebunden ist, das sich durch Inzest, Selbstmord und Mord selbst zerstört, ein 25 Jahre dauerndes Harakiri. Und er zeigt in Momenten der Komik – vor allem die Frauen haben die Freiheit, zu lachen – einen anderen Weg, die Vergangenheit zu überwinden, nicht durch die Selbstzerstörung, sondern durch die bewußte Mißachtung überkommener, falscher Traditionen. Doch sind diese Augenblicke der Emanzipation selten, es überwiegt die Resignation.
Oshima verbindet in seinem Film in bewundernswerter, fast waghalsiger Weise zwei ganz verschiedene künstlerische Traditionen: das epische Theater modellhaften Charakters, etwa von Brecht, und das Kinomelodram, das Emotionen freisetzt, manchmal des Wahnsinns, die nicht mehr zu bändigen sind. Diese Mischung bewirkt, daß die Gleichung des Films, die Familie = Japan, zwar stimmt, aber nicht glatt aufgeht. Billiger Symbolismus, der einen solchen Film völlig verderben könnte, wird dadurch unmöglich.

(Wilhelm Roth, Frankfurter Neue Presse, 3.7.1971. Pressespiegel Forum 1971)

Produktionsfirmen Sozosha (Tokio, Japan), Art Theatre Guild of Japan (ATG) (Tokio, Japan). Regie Nagisa Oshima. Buch Tsutomu Tamura, Mamoru Sasaki, Nagisa Oshima. Kamera Toichiro Narushima. Montage Keiichiro Uraoka. Musik Toru Takemitsu. Ton Hideo Nishizaki. Mit Kenzo Kawarazaki (Masuo Sakurada), Atsuko Kaku (Ritsuko Sakurada), Atsuo Nakamura (Terumichi Tachibana), Akiko Koyama (Setsuko Sakurada), Kei Sato (Kazuomi Sakurada), Kiyoshi Tsuchiya (Tadashi Sakurada), Nobuko Otawa (Shizu Sakurada), Maki Takayama (Kiku Sakurada), Sue Mitobe (Chiyo Sakurada), Hosei Komatsu (Isamu Sakurada), Fumio Watanabe (Susumu Sakurada), Rokko Toura (Mamoru Sakurada), Shizue Kawarazaki (Tomiko Sakurada), Eitaro Ozawa (Takeyo Tachibana).

Filme

1959: Ai to kibo no machi / A Town of Love and Hope / Stadt der Liebe und Hoffnung (62 Min.). 1960: Seishun zankoku monogatari / Cruel Story of Youth / Nackte Jugend (69 Min.), Nihon no yoru to kiri / Night and Fog in Japan / Nacht und Nebel über Japan (107 Min.). 1965: Etsuraku / Pleasures of the Flesh / Die Freuden des Fleisches (104 Min.). 1968: Koshikei / Death by Hanging / Tod durch Erhängen (107 Min.), Kaette kita yopparai / Three Resurrected Drunkards / Rückkehr der drei Trunkenbolde (80 Min.). 1969: Shonen / Boy / Der Junge (105 Min.). 1970: Tokyo senso sengo hiwa: eiga de isho o nokoshita otoko no monogatari / The Battle of Tokyo, or the Story of the Young Man Who Left His Will on Film / Geheime Geschichten aus der Zeit nach dem Tokio-Krieg (94 Min.). 1976: Ai no corrida / In the Realm of the Senses / Im Reich der Sinne (102 Min., Wettbewerb 1976, Retrospektive 1990). 1978: Ai no borei / Empire of Passion / Im Reich der Leidenschaft (105 Min.). 1983: Senjo no meri kurisumasu / Merry Christmas, Mr. Lawrence / Furyo – Merry Christmas, Mr. Lawrence (123 Min.). 1986: Makkusu mon amuru / Max mon amour (97 Min., Hommage 2019).

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