Der Film fliegt, schwimmt und eilt von Punkt zu Punkt
Ein Film wie MARE’S TAIL von David Larcher ist ein epischer Filmflug in einem inneren Weltenraum. Ein visuelles Konglomerat von 2 3/4 Stunden. Das, da es die persönliche Odyssee des Filmautors ist, zur Odyssee eines jeden von uns wird. Er ist das Leben eines Menschen, umgesetzt in einen visuellen Zusammenhang. Er handelt von den Geistern und Dämonen, die in jedem von uns sind, die sich in dem Film als mythische Totalität hinter den Bruchstücken der Realität zu erkennen geben. Jeder Augenblick setzt eine Reise in Gang. Es gibt Flecken vor unseren Augen, wie wenn man in die Sonne blickt, die flammt und die Augenblicke unserer Zeit ausbrennt, die in eine andere Zeit übertreten, in den Film und uns. Von irgendwoher, uns unbekannt und ohne erkennbare Ursache, erblicken wir in der Ferne bewegte Formen, die aufblitzen, durch Sonnen treiben. Ein Stück Erde schiebt sich über den Mond. Da ist ein Gesicht, dein Gesicht, sein Gesicht, ein Gesicht, das herblickt und aufbricht in Formen, die neue Formen formen, die wir als winzige monolithische Monumente wiederentdecken können. Ein Profil als Vorderansicht. Der Mond noch einmal, das Fleisch, das Kind, der Raum und die Wellen werden Teil ihrer eigenen und unserer Hieroglyphen.
MARE’S TAIL ist ein regelrechter Trip. Der Film fliegt, schwimmt und eilt von Punkt zu Punkt – wie jeder von uns. Die Linien werden zu Formen, welche sich in Kreise verwandeln, und unsere Augen tauchen in die Farben ein. Was jeder von uns sehen kann, ist mehr als das, was wir sehen. Der Film ist eine der bedeutendsten Expeditionen in die Erfahrung des Sehens und steht im Range gleich mit Stan Brakhages THE ART OF VISION (Die Kunst des Sehens) als Klassiker der filmischen Wahrnehmung. Da MARE’S TAIL vom Abstrakten bis zum Bildhaften reicht, gibt es keine Möglichkeiten, mit direkten verbalen Mitteln seinen Standort zu bestimmen. Der Film geht nicht vom Abstrakten zum Metaphorischen im Sinne seiner objektiven Sehweise, sondern er erkundet auch die subjektiven Reaktionen Larchers auf sein eigenes Leben und auf seine persönlichen visuellen Erfahrungen. (…)
Auf seine Art ist MARE’S TAIL ein Archetyp filmischen Ausdrucks. Die Bewegungen der Linien, wie bei einem zu langsamen Zeichentrickfilm, kombiniert mit phlegmatischen Zoom- und Drehbewegungen, werden gleichsam zu Gedankenstücken. Es gibt auch Rückprojektionen, die noch einmal aufgenommen wurden, oder das noch einmal gefilmte Negativ (Farbe auf Farbnegativ), welches eine Abwandlung der bereits umgeformten Farbnuancen hervorbringt. (…)
Der Film handelt von der Zeit und braucht Zeit. Man darf ihn nicht ungeduldig betrachten, mit einer bestimmten Erwartung, nicht nach Verallgemeinerung, Verdichtung, Komplikation oder Implikation suchen. Wie bei den meisten Filmen bedarf es nur der bedingungslosen Zeit, um zu erfahren, was geschieht und was man sieht. Dann wird man etwas von dem Film empfangen.
MARE’S TAIL ist vielleicht der erste britische Film, der dieses allumfassende Gefühl reinen Schauens vermittelt, und einer der wenigen seiner Art und seiner Größe in der Welt. Larcher, der auch einer der wenigen subjektiv reagierenden und freien Photographen ist, hat keine Theorien. Falls irgendwelche Einflüsse nachweisbar sind, dann von I Ching, der hypnagogischen Bild- und Klangwelt von John Cage. An einer Stelle der Tonspur wiederholt Cages Stimme unaufhörlich: „Bin ich ein Schmetterling?“, Teil des Satzes „Bin ich ein Mensch oder bin ich ein Schmetterling?“. Die Frage klingt als Echo weiter (ebenso gibt es Echowirkungen einer verschwommenen fernen Stimme, die an einer Stelle der Tonspur „River, the follower“ singt). Der wirkliche Einfluß jedoch ist Larcher selbst, der in seiner eigenen Welt herumstöbert und Entdeckungen macht. Das ist das Wesentliche des Films, und das macht ihn einzigartig. Es ist die Freiheit, die viele wünschen, die die meisten fürchten und die übrigen hinausintellektualisieren. MARE’S TAIL (die unaufdringliche Unterstützung Alan Powers hat ihn ermöglicht) gibt den vielfältigen Möglichkeiten des Films Kontinuität. Er liefert auch ein neues Verständnis für die Freiheiten, die man in vielen Filmen anderer Filmmacher findet.
(Steve Dwoskin, Afterimage, London, No. 2, Herbst 1970, S. 41 ff., Infoblatt Nr. 28, 1. Internationales Forum des jungen Films, Berlin 1971)