Luchino Visconti: Mein Weg zu OSSESSIONE
[…] Was den Begriff ‚Neo-Realismus’ angeht, so entstand er aus einer Korrespondenz, die ich mit Mario Serandrei führte, der heute noch mein Cutter ist. Er sah die ersten Muster von OSSESSIONE und schrieb mir einen langen Brief, in dem er unter anderem ausführte: „Dieses Filmgenre, das ich zum erstenmal sehe, ... würde ich ‚neo-realistisch’ nennen.“ Und von dort kam der Ausdruck ‚Neo-Realismus’, er wurde zuerst für OSSESSIONE geprägt. […]
(Giuseppe Ferrara, Entretien avec Luchino Visconti, Paris 1963; zitiert nach Ulrich Gregor, Aspekte des italienischen Films 1, Bad Ems 1969, S. 58)
Das unverstellte Italien
[…] Gerade um das Jahr 1940 begann das Interesse für die zeitgenössische nordamerikanische Literatur unter den italienischen Intellektuellen aufzublühen. Zum erstenmal erschienen italienische Übersetzungen der Werke Faulkners, Hemingways und Steinbecks, italienische Autoren wie Vittorini machten sich selbst an die Übersetzung der amerikanischen Texte oder verfaßten, wie Pavese, Essays über die Literatur der USA.
Von dieser Literatur ging angesichts der sterilen Kunstdoktrin des Faschismus ein Atem der Befreiung aus: Hier spürte man mit einemmal die Gegenwart des realen Lebens, jene Aufrichtigkeit auch in der Darstellung sozialer Gegensätze, deren Erwähnung die faschistische Kunstpolitik tabuiert hatte. In der Welt der amerikanischen Romane entdeckten die Italiener letzten Endes ihre eigene zeitgenössische Wirklichkeit wieder. Diese Umstände muß man sich vor Augen halten, um zu verstehen, welche Gründe, welches literarische ‚Klima’ Visconti mit dazu bestimmten, nach dem Roman „The Postman Always Rings Twice“ von James M. Cain seinen Film OSSESSIONE zu drehen. Nicht so sehr auf die kriminalistische Intrige oder die kaum überragenden stilistischen Qualitäten der literarischen Vorlage kam es Visconti an, sondern auf die durch den Roman gegebene Chance, auf der Leinwand ein veristisches Italienbild zu entwerfen, das sich von dem herkömmlichen, mythischen Italien der weißen Telephone, der Salons und der pünktlich eintreffenden Züge, wie es das offizielle Kino damals propagierte, radikal unterscheiden sollte. […]
Was Visconti in OSSESSIONE vornehmlich gelang, das war, ein veristisches, detailgenaues und milieuechtes Panorama italienischen Provinzlebens zu entwerfen, wie es bis dahin im italienischen Film noch niemals zu sehen war. OSSESSIONE öffnete zum erstenmal den Blick für die zeitgenössische Wirklichkeit eines Italiens, das sich unverstellt, unrhetorisch, fern aller offiziellen Klischees, in geradezu trübseliger Beschränktheit offenbarte. Im Jahre 1942 bedeutete das eine Revolution. Visconti brachte das Dekor der ungepflegten Provinzhäuser, der Landstraßen, der Volksfeste mit ihren Gesangswettbewerben, der Plätze von Ancona und Ferrara, der Sandbänke und Flußdeiche mit einer Intensität und einer dokumentarischen Beobachtungsgabe auf die Leinwand, die von ihrer Kraft bis heute nichts eingebüßt hat. Aber er verwendete diese Dekors nicht als pittoresken Hintergrund, sondern verstand es, Milieu und Natur mit der Persönlichkeit, mit dem Charakter seiner Helden zu verketten.
Viscontis Charaktere in OSSESSIONE sind in der norditalienischen Landschaft verhaftet; sie leben aus ihr. Diese Landschaft entfaltet sich bei Visconti in langen Kamerafahrten und Schwenks, die an die Stelle einer dissoziierenden Montage treten, was er bei den Franzosen, namentlich bei Renoir, gelernt hatte. Mit dieser Technik gelang es Visconti, milieubezeichnende Details, charakteristische Aspekte der Landschaft und bestimmte Momente im psychologischen Verhalten seiner Personen aneinander zu spiegeln und miteinander zu verweben. Bezeichnend übrigens, daß Visconti auf Großaufnahmen von Gesichtern weitgehend verzichtete und die Personen in der Verbundenheit mit ihrem Milieu beließ, woraus großartige Szenen, wahre Anthologiesequenzen der Filmgeschichte resultierten […].
(Ulrich Gregor, Von OSSESSIONE zu LA TERRA TREMA, Kinemathek, Nr. 32, Februar 1967, Infoblatt Nr. 5, 1. Internationales Forum des jungen Films, Berlin 1971, Download PDF)