Ein Heiligtum des Naiven
Der ‚Naive’ ist, was das Verhältnis zwischen Kunst und Gesellschaft angeht, der Antipode des Künstlers. Dieser glaubt nicht an die gesellschaftlichen Konventionen, er weiß vor allem, daß man, wenn man Kunst machen will, nicht daran glauben soll; aber er ist imstande, sie darzustellen wie jeden beliebigen anderen Gegenstand. Der ‚Naive’ dagegen glaubt an die gesellschaftlichen Konventionen und meint sogar, daß man an sie glauben muß; deshalb stellt er sie in einer konformistischen und respektvollen Weise dar, wie es einer bevorzugten Materie gebührt, die besondere Behandlung verlangt. Daraus resultiert, daß die Fähigkeiten des Künstlers in seiner Ausdrucksweise liegen, hingegen die des ‚Naiven’ in all dem Unbewußten, das – gegen seinen Willen – durch seine gewissenhaft genaue Darstellung durchschimmert.
Diese Überlegungen sind uns vor einiger Zeit in den Sinn gekommen, als in einem römischen Kino der Film OSTIA von Sergio Citti anlief: wir kommen verspätet auf ihn zu sprechen, aber wir sind der Meinung, daß es nachteilig gewesen wäre, über ihn zu schweigen, sei es, weil viele den Film gesehen haben und vielleicht wissen wollen, was wir von ihm halten, sei es auch und vor allem, weil dieser Film einen der seltenen Fälle von ‚naivem’ Kino darstellt, die wir kennen, vielleicht den einzigen.
Die Story von OSTIA ist einfach. Auf einer Wiese am Stadtrand stößt eine Bande von jungen Kerlen auf eine Frau, die rücklings im Grase liegt und auf den ersten Bück tot zu sein scheint. Aber sie ist nicht tot, es handelt sich um eine Prostituierte, die sich in einer ungewöhnlichen und gewissermaßen symbolischen Weise anbietet: als ob sie die Erde selbst wäre, auf der sie hingebreitet liegt. Die Gruppe trägt die Frau in ein heruntergekommenes Haus, das von zwei Brüdern bewohnt wird, die die Beinamen Rabbino (Rabbiner) und Bandiera (Flagge) tragen. Aber die beiden verschmähen die Liebe; während sich die anderen der Gruppe bei der Frau abwechseln, trinken sie hartnäckig ein Glas nach dem anderen und leeren so einen ganzen Krug voll Wein. Warum treiben es die Brüder nicht wie die anderen? Im Grunde, wenn man es genau betrachtet, weil sie sich, ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, schon beide in die Frau verliebt haben und bereits Rivalen sind: jeder von beiden möchte, ohne es zu wissen, die Frau ganz für sich. So beginnt das seltsame Leben zu dritt zwischen dem Mädchen, Rabbino und Bandiera.
Die beiden Brüder und das Mädchen erzählen sich gegenseitig ihre Lebensgeschichten. Es sind sehr ähnliche Geschichten, vor allem in einem Punkt: beide drehen sich um das Verhältnis zum Vater. Das Mädchen hat ihren Vater als ersten Liebhaber gehabt, Rabbino und Bandiera haben den betrunkenen und brutalen Vater als Kinder getötet, indem sie ihn aus dem Fenster warfen. Theoretisch haben wir es hier mit Inzest und Vatermord zu tun. Aber in Wirklichkeit zeigt uns Citti im selben Moment, als er in ‚naiver’ Manier den Vater als Heiligenfigur darstellt, gegen seinen Willen die wahre Natur von Beziehungen, die nicht familiär, sondern eher animalisch sind. In Wahrheit haben die beiden Jungen einen männlichen Rivalen getötet, und das Mädchen hat die sexuelle Gewalt eines Mannes erlitten.
Nach einiger Zeit landen die Brüder wegen Diebstahls im Gefängnis. Und dann steigert sich die Rivalität plötzlich zur Raserei. Doch auch hier, wo Citti scheinbar die familiäre Konvention, die Rabbino und Bandiera zu Brüdern macht, respektiert, beschreibt er in Wahrheit ein weiteres Mal ein animalisches Verhältnis. Und so haben wir, als Rabbino während einer Fahrt nach Ostia Bandiera mit dem Mädchen zusammen überrascht, nicht den Eindruck eines Brudermordes, sondern eher den eines blutigen Zusammenstoßes zweier männlicher Wesen, die beide für die gleiche Frau entbrannt sind.
OSTIA ist ein bemerkenswerter und in seiner Art, wie wir gesagt haben, einzigartiger Film. Sergio Citti schildert ein authentisches Rom, in dem sich die heuchlerische und sardonische Atmosphäre der alten Stadt Bellis (1) mit dem Elend der Stadtviertel Pasolinis verbindet. Aber Citti zeigt diese Realität nicht in der kontemplativen Art Pasolinis, er gibt sie vielmehr mit der Unmittelbarkeit dessen wieder, der selbst ein Teil dieser Wirklichkeit ist.
(1) Giuseppe Gioacchino Belli (1791–1863), römischer Volksdichter
(Alberto Moravia, L'Espresso, Rom, 11.10.1970, Infoblatt Nr. 7, 1. Internationales Forum des jungen Films, Berlin 1971, Download PDF)