Interview mit Jean-Louis Bertuccelli: „Mir schwebte ein Stil zwischen dem japanischen und brasilianischen vor“
Wie kamen Sie dazu, REMPARTS D’ARGILE zu drehen?
Auf einer Reise durch Tunesien entdeckte ich am äußersten Rand der Sahara das Dorf Chebika. Ich war fasziniert von den Bewohnern und blieb etwa einen Monat lang dort. Als ich wieder in Frankreich war, erfuhr ich, daß der Soziologe Jean Duvignaud ein Buch über dieses Dorf geschrieben hatte, eine Untersuchung, die er zusammen mit fünf tunesischen Studenten unternommen hatte. Es geht darin um einen Streik der Steinbrucharbeiter, den die Armee beenden will, und um ein Mädchen, das eines Tages auf mysteriöse Weise in der Wüste verschwand. Obwohl CHEBIKA in Tunesien nicht verboten war, erhielt ich von den zuständigen Behörden (nach einigem Hin und Her) keine Dreherlaubnis, und ich konnte REMPARTS D’ARGILE nicht, wie ich es mir gewünscht hatte, als tunesisch-französische Koproduktion realisieren. Ich glaube, dieses Buch war nicht sehr beliebt. Zweifellos warf man ihm vor, es erwecke den Anschein, daß der Süden des Landes vernachlässigt werde. So wandte ich mich nach Algerien. Dort fand ich bei Mohamed Lakhdar-Hamina (dem Regisseur von VENT DES AURÈS und HASSAN TERRO) großes Entgegenkommen. Das ‚Office Actualités Algériennes’ finanzierte meinen Film zu 40 % (der Gesamtetat betrug 50 Millionen alte Francs). Mit dem algerischen Assistenten Mohamed Bouamari suchte ich nun ein Dorf, das Chebika ähnelte. Schließlich fanden wir Tehouda, nur 50 Kilometer von Chebika entfernt, auf der anderen Seite der Grenze. Wir drehten den Film in acht Wochen. Doch wegen des schlechten Wetters (30 000 Menschen wurden durch Überschwemmungen obdachlos, 300 kamen ums Leben) haben wir in Wirklichkeit nur 18 Tage drehen können. (…)
Hatten Sie ein genau fixiertes Drehbuch?
Nein, es war nur sehr wenig ausgearbeitet. Ich habe mich auf das bezogen, was sich ereignete. Was das Buch angeht, so habe ich eine Menge hinzuerfunden. Soviel wie möglich habe ich auf das Leben des Dorfes zurückgegriffen. Einiges mußte ich natürlich ändern: beispielsweise gab es in Chebika keine Brunnen. Tehouda ist ein Dorf aus Lehm, nicht aus Stein… (…)
Ist es Absicht, daß Sie REMPARTS D’ARGILE fast im Stil der traditionellen ethnographischen Filme begonnen haben?
Es freut mich, daß Sie den Anfang so empfinden. Tatsächlich war es meine Absicht, die Leute irgendwie 'einzustimmen' und sie nach und nach dazu zu bringen, die Dinge anders zu sehen. Ich war aber nicht sicher, ob die Zuschauer diese lange und langsame Einleitung von 20 Minuten akzeptieren. Ich weiß nicht, ob mein Film genügend strukturiert ist, aber ich liebe die Atmosphäre, die aus dieser Introduktion entsteht. Ich möchte, daß man am Ende des Films dasselbe fühlt, was ich während der Aufnahmen empfunden habe. (…)
Besonders erstaunlich ist die Fotografie von Andréas Winding. Entsprach sie genau Ihren Wünschen, oder entstanden diese Bilder aus seiner eigenen Vorstellung heraus?
Ich wollte keinen Ästhetizismus, aber ich wollte auch keinen schlampigen Film machen. Oft habe ich gehört, wie Regisseure zum Kameramann sagen: ‚Ich will diese oder jene Aufnahme’. So ist unser Film nicht entstanden. Wir haben über alles Mögliche gesprochen und kamen auf diese Weise zu einer gewissen Übereinstimmung. Selbstverständlich hätte ich mit einem anderen Kameramann nie ein solches Resultat erreicht. (…)
Warum wurde das Ende des Films von einem Helikopter aus aufgenommen?
Zugegeben, der Schluß ist sehr vieldeutig. Man muß bedenken, in welchem Zustand ich mich nach den Dreharbeiten befand: ich hatte das ganze Filmmaterial zum Entwickeln nach Paris geschickt und noch keine einzige Aufnahme gesehen. Ich wußte also überhaupt nichts über unser Resultat. Plötzlich hatte ich das Gefühl, meine Arbeit habe keinen Sinn. Irgendwie, dachte ich, müßte man das konkretisieren, und ich sagte zu Winding, er solle den Piloten des Helikopters filmen, in dem wir saßen. Dadurch wollte ich eine Distanzierung in den Film bringen.
Erstaunlich ist der Rhythmus von REMPARTS D’ARGILE. Haben Sie ihn im Stadium des Drehbuchschreibens gefunden, beim Drehen oder bei der Montage?
Genau kann ich das nicht beantworten. Er ist von selbst entstanden. Ich hatte den Film so im Gefühl.
Der Stil Ihres Films ist ziemlich ungewöhnlich. Man weiß nicht, wie man ihn definieren soll ...
Ich liebe die italienischen Filme wie DIE BANDITEN VON ORGOSOLO und auch die Filme von Dreyer. Für REMPARTS D’ARGILE schwebte mir ein Stil zwischen dem japanischen und brasilianischen vor. Ich liebe Dinge, die zugleich einfach und gewaltig sind. Es ist übrigens das erstemal, daß man den südlichen Maghreb wirklich im Film zeigt.
(Interview: Guy Hennebelle, Cinéma 71, Nr. 152, Januar 1971, S. 123 ff., Infoblatt Nr. 9, 1. Internationales Forum des jungen Films, Berlin 1971, Download PDF)