Weisheit aus dem Osten
Die Überraschung des Festivals in Cannes – und das ist eigentlich noch milde ausgedrückt – war Makavejevs W.R. – Misterije Organizma. Dank des ‚New Cinema Club’ ist Makavejev in England durch drei Filme bekannt geworden: DER MENSCH IST KEIN VOGEL, seinen ersten Spielfilm; EIN LIEBESFALL (von der Zensur beanstandet) und UNSCHULD OHNE SCHUTZ, in dem er einen liebenswert abscheulichen Amateurfilm einfügt, der als patriotische Geste (im Laufe eines Jahres) von einem Athleten gedreht worden war. Wie schon Unschuld ohne Schutz kreiert auch dieser neue Film ein eigenes Genre. Er beginnt als Dokumentarfilm über Wilhelm Reich, der auf Grund seiner oft verrückten, jedoch immer menschlichen Theorien von der kosmischen Rolle der Energie des Orgasmus seinen Lebensabend in einem amerikanischen Gefängnis zubringen musste.
Dies ist jedoch nur die Einleitung zu einer Folge von ungewöhnlichen visuellen Extravaganzen und poetischen Verbindungen – zu etwas, was Eisenstein als ‚Attraktionsmontage’ bezeichnete und was Makavejev als ‚politischen Zirkus’ beschreibt. Er assoziiert die verschiedensten Elemente: Szenen aus Reichs Therapie; ein Hippie, der als GI verkleidet durch die Straßen von New York spaziert; der Schauspieler Michail Gelowani, der Josef Stalin auf dem Höhepunkt des Persönlichkeitskultes darstellt; zwei hübsche jugoslawische Mädchen, die aktiv das Ideal propagieren, im Namen des Kommunismus zu kopulieren; ein Film über Geisteskranke, der Hitler zur Rechtfertigung der Euthanasie diente. All dies ist zusammengefügt, in Bewegung gesetzt und führt zu den verblüffendsten Kollisionen, unterstützt von der Reich-Makavejev-Theorie, daß Grausamkeit, Gewalt, Unmenschlichkeit und politischer Totalitarismus mit sexueller Impotenz und Frustration gleichzusetzen sind.
Das steigert sich bis zum Surrealismus. Dokumentarische Aufnahmen aus den USA zeigen eine Priamos-Feier, in der Jim Buckley, der Herausgeber von „Screw Magazine“, seinen Penis in Gips gießen läßt, während gleichzeitig eine der Jugoslawinnen versucht, einen sowjetischen Weltmeister im Eiskunstlauf zu verführen: rosaroter stalinistischer Plastik-Heroismus und Jungfräulichkeit. (…)
Ohne Zweifel war dies der Film des Festivals in Cannes 1971, und ich war sicher nicht der einzige, der sich alle vier Vorführungen angeschaut hat, um ganz sicher zu gehen, daß Makavejevs Talent keine Illusion ist. Von den Zensoren von rechts und links, in Ost und West wird er kaum mehr Dankbarkeit ernten als Reich; aber sicherlich hat er das jugoslawische Kino deutlich auf der Landkarte markiert.
(David Robinson, Financial Times, London, 26.5.1971)
Auf den Spuren des Meisters
In seiner zweiten Woche erlebte das Festival in Cannes, das bis zu diesem Zeitpunkt arm an Überraschungen war, eine glückliche Wende durch einen Film mit dem unansehnlichen Titel W.R. – Misterije Organizma. Jeder las da natürlich sofort ‚Orgasmus’, was – wie sich bei näherer Betrachtung herausstellt, gar nicht so falsch ist: Dusan Makavejev (...) baut seinen Film diesmal auf der Karriere und den exzentrischen Theorien Wilhelm Reichs auf, der die natürliche Lust am Sexuellen als Kernpunkt und Ausdrucks des Kommunismus ansah und später – in Amerika – behauptete, daß man Krebs und andere Krankheiten heilen könne, indem man sexuelle Energien in seiner Orgonkammer speichert. (…)
Das Ergebnis aus dieser bizarren Ideenkombination ist ungeheuer lustig und gleichzeitig seltsam beunruhigend. Man kann den Film ganz verschieden interpretieren: als politische Satire (die Art und Weise, wie Makavejev mit Filmdokumenten umgeht, ist einfach brillant, vor allem die chinesischen Wochenschauen, und fast unglaubliche Ausschnitte aus einem alten russischen Spielfilm, in dem Stalin vergöttert wird), als Essay in angewandter Sexologie, als eine subjektive Autobiografie, eine Pop-Art-Collage, eine Geschichte, einen Dokumentarfilm...
(John Russell Taylor, The Times, London, 25. 5. 1971, Infoblatt No. 22, 1. Internationales Forum des jungen Films, Berlin 1971)