Eines der wichtigsten Jahre war wohl 2001, als die Berlinale an den Potsdamer Platz übersiedelte, wo seit 2000 auch das Arsenal ist. Und es begann die Zeit von Dieter Kosslick als Direktor des Festivals. Und Christoph Terhechte war der neue Leiter des Forums.
SSS: 2001 war natürlich wichtig, aber die Phase der Veränderung ging damals bis 2004, als das Arsenal aus der Zuständigkeit des Berliner Senats in die des Bundes wechselte.
UG: Die Ablösung von Moritz de Hadeln durch Kosslick brachte eine totale Veränderung des Klimas. Davor bestand zwischen der Berlinale und dem Forum eine Rivalität. Jeder hat mit Argusaugen auf den anderen geguckt, das war aber ziemlich fruchtbar und für alle, mit denen wir zusammenarbeiteten, eine starke Motivation. Die Energie, mit der wir nach Filmen geforscht haben, hat sich durch dieses Klima verdoppelt.
CT: Teil der Geschichte ist, dass es Pläne für ein Filmhaus schon vor 1989 gab. Es sollte direkt an der Mauer liegen. Das musste dann in die neuen Pläne integriert werden. 1998 wurde de Hadeln überraschend drei Jahre verlängert, da war ich bereits designierter Leiter des Forums, das ich eigentlich schon 1999 hätte machen sollen. Ulrich und Erika Gregor, die mich gefragt hatten, beschlossen damals: Gut, dann machen wir das auch noch drei Jahre länger. Als ich schließlich auf Kosslick traf, hatte Ulrich Gregor auf die Position des Berlinale-Co-Direktors bereits verzichtet, und ich musste mich mit Kosslick auf eine neue Weise arrangieren.
War es für das Forum nun schwieriger, sich abzugrenzen? Zumal es seit 1986 ja auch noch das Panorama als neue Programmsektion gab, das 1986 von Manfred Salzgeber gegründet wurde, der auch aus dem Forum kam.
CT: Ich hatte inhaltlich keine Probleme mit dieser neuen Konstellation unter Kosslick, der ausdrücklich das Kriegsbeil mit mir begraben wollte – wir hatten uns in Hamburg in einer anderen Angelegenheit einmal überworfen. Moritz de Hadeln und Ulrich Gregor wussten das Kriegsbeil noch ganz vortrefflich zu schwingen. LES AMANTS DU PONT-NEUF (1991) von Leos Carax hätte auch im Wettbewerb laufen können, immerhin war das einer der teuersten Filme der 80er Jahre, aber er lief im Forum, und das war richtig, denn es kommt nicht auf äußerliche Kriterien an, sondern auf die Haltung und die filmischen Qualitäten. Im Mitternachtsprogramm zeigten wir zuerst Hongkongfilme, später dann auch Bollywoodfilme. Das Forum war die erste Sektion eines internationalen Festivals, das indischen Mainstream nach Europa holte. Das war Dorothee Wenner zu verdanken. Wir haben damals in New York an der Second Avenue Videokassetten gekauft und abends im Hotel geguckt.
UG: Das war für uns ein Umschwung. Denn alternative indische Autorenfilmer wie Mrinal Sen hatten nur die allergrößte Verachtung für das kommerzielle indische Kino. Dorothee Wenner hat da den Durchbruch erzielt, dass wir auch an diesen Filmen Interesse fanden.
CT: Es ging ja auch darum, in diesen Filmen andere Qualitäten zu erkennen als ihre schiere Popularität. Im Übrigen war mein erster wirklicher Eingriff im Forum ein quantitativer: Ich habe das Programm gekürzt. Denn es lief viel zu viel. Ich dachte, wir sollten weniger Filme ein bisschen häufiger zeigen.
BK: Eine ganz entscheidende Veränderung war der Moment, als auch für das Forum die Premierenregel galt. Die ist ein Symptom dafür, wie die Branche funktioniert, und sorgt für Konkurrenz unter den Festivals. Seitdem agiert auch das Forum bei der Auswahl der Filme in einem Feld, in dem die Macht der Weltvertriebe immer größer wird und der Einfluss der vielen Pitching Stations und Talent-Märkte ständig zunimmt. Das ist das Ambiente, in dem sich das Forum mit seinem spezifischen Profil heutzutage zu behaupten hat. Und da stellt sich dann die Frage, wo und wie sich überhaupt noch nicht formatierte Filme finden lassen, an denen uns ja so gelegen ist.
Das Weltkino ist inzwischen ein hoch integriertes Teilsystem eines „Weltinnenraums“, in dem es schwierig ist, noch ästhetische und politische Innovationen zu finden?
CN: Wir sind jetzt an einem Punkt, an dem das Forum seine Erfolgsgeschichte wieder überprüfen muss, denn der Erfolg kann einem ein bisschen davongaloppieren. Das Forum war extrem wichtig für die Etablierung von Bollywood, inzwischen wurde das aber soweit aufgegriffen, dass Bollywood-Filme auf RTL laufen. Eine Schiene wie das Mitternachtskino ergibt heute kaum noch Sinn, weil es diesen Typus des raren, kultisch aufgeladenen Films nicht mehr gibt. Wo und wie Film gesehen und reflektiert wird, hat sich extrem verändert hat. Im Jahrgang 1971 tauchen noch Vertreter des Dritten Kinos auf, mit einer radikalen Kritik am Status quo aus der Perspektive von Ländern an der Peripherie des hegemonialen Westens. Diese Kritik sieht man heute nur noch selten, zum Beispiel bei Lav Diaz oder Wang Bing. Der Zeitgeist atmet nicht mehr so sehr diese Haltung einer radikalen Kritik. Es gab eine Zeit, in der Frontstellungen stärker dazugehörten. Heute wird Kritik sofort eingespeist, damit (ich sage das jetzt bewusst sehr pauschal) der Kapitalismus besser funktioniert. Minoritäres wird rasch zu einem Teil des Mainstreams.
CT: Es gibt inzwischen nicht nur einen Mainstream der Filmindustrien, sondern auch einen Mainstream bei den Festivals und in der Welt der Filmförderer. Lav Diaz und Wang Bing arbeiten auf ihre Weise recht komfortabel. Ich weiß nicht, wann dieser Moment kam, seit dem man kaum noch etwas entdecken konnte, weil kommerzielle Mechanismen alles sehr schnell aufgreifen. Aki Kaurismäki wurde einmal von de Hadeln abgelehnt und ging dann immer ins Forum, bis er dann unter Kosslick doch wieder in den Wettbewerb ging. Das war dann auch bezeichnend.
UG: Ein großer Regisseur wie Hirokazu Kore-eda hat bei der Festivalvermarktung von seinen Filmen nichts zu sagen. Der Weltvertrieb macht das alles für ihn aus.
Das Forum war einmal das Außen der Berlinale, später wurde das Forum Expanded ein Außen des Forums, inzwischen gibt es kaum noch Möglichkeiten, ein Außen zu finden.
SSS: Das Forum hat von Beginn an sehr radikale Experimentalfilme gezeigt. Allerdings durchlief das Feld in späteren Jahren eine starke Kanonisierung. Viele Arbeiten begannen sich zu ähneln. Michael Snow hat 2012 während unseres Think:Film-Kongresses rückblickend angemerkt, dass er einige Filme für epigonal hielt. Parallel kam Film immer stärker im Kunstbereich vor, da deuteten sich durch andere Dispositive und Kontexte neue Möglichkeiten an. Das fand ich einerseits zuweilen übergriffig, gleichzeitig hatte ich aber den Eindruck, das hier etwas stattfand, was ich im Filmbereich vermisst habe. Vieles, was plötzlich aus der Bildenden Kunst kam, wurde auch im Forum eingereicht, passte aber nichts ins Kino- bzw. ins Festivalformat. Wir haben einmal ein dreistündiges Videotagebuch von der Künstlerin Gina Kim gezeigt. Vor der Premiere wurde sie sehr nervös, weil sie die Kinosituation nicht gewöhnt war, und bat darum, dem Publikum mitzuteilen, dass es rein und raus gehen könne. Sie war dann total verblüfft, dass das Publikum nicht nur blieb, sondern ihre Arbeit sehr positiv als Kinofilm aufnahm.
CT: Das ist eine bedeutende Klarstellung, denn der Avantgardefilm sollte keineswegs aus dem Forum ausgelagert werden. Forum Expanded sollte nicht das Forum von der Pflicht befreien, Experimentelles zu zeigen. Es ging auch um ein neues Publikum, das Ausstellungen und Galerien vertraut ist.
BK: Das Experiment dort zu finden, wo es nicht schon gut sichtbar als Etikett draufklebt – das ist ein Ehrgeiz des Forums.
SSS: Ich sehe das alles als ein Forschungsprojekt, getragen von einem Verständnis unseres kulturellen Auftrags, an öffentlichen Diskursen teilzuhaben und sie zu initiieren. Bei den Ausstellungen im Rahmen von Forum Expanded ging es auch darum, das Kino von außen zu betrachten, und institutionelle Grenzen in ihrer Unveränderbarkeit zu hinterfragen.
UG: TEATRO AMAZONAS (1999) von Sharon Lockhardt hat einen regelrechten Ausbruch beim Publikum hervorgerufen, das fanden wir dann doch sehr interessant, so viel Emotionen durch einen Experimentalfilm.
CT: Filme ohne Label zu sehen – das ist für mich die Essenz des Forums. Keinen vorgefassten Begriff von dem zu haben, was einen erwartet. So habe ich das Forum schon in den 80ern als Kinogänger erlebt. Es verstand sich, dass man das Forumsblatt erst hinterher liest und völlig offen ins Kino geht.
CN: Ich war damals Filmredakteurin bei der taz und machte immer wieder die Erfahrung, dass das Kino ein fürchterlich diskursfreier Raum sein konnte, während das Kunstfeld stark mit Diskurs aufgeladen war. Da gab es einen großen Unterschied. In Deutschland wird das Kino stark mit Unterhaltung assoziiert, es darf einem nicht zu denken geben.
SSS: Darüber hinaus war es für uns immer ein Spagat, die sehr verschiedenen Ökonomien zu verhandeln. Nur ein Beispiel: In Ausstellungskatalogen werden die Namen der Künstler*innen zuerst genannt, bei Festivals sind es die Filmtitel.
Das Forum steht heute mehr denn je im Kontext der vielfältigen Tätigkeiten des Arsenals: Living Archive wäre ein wichtiges Stichwort. Die Gegenwart wird in ihren zeitgeschichtlichen und territorialen Aspekten vielschichtig erschlossen.
SSS: Ich war in meiner ersten Zeit im Arsenal auch für den Verleih und den Kopienversand zuständig. Die Filme des Forums zirkulierten jahrelang, und man konnte an dem, was die Kommunalen Kinos ausliehen, ablesen, was gerade wichtig war. Unsere Filmsammlung bildet diese Geschichte sehr gut ab, das Forum war mit den einzelnen Jahrgängen der Berlinale nie abgeschlossen.
CN: Wir zeigen in diesem Jahr aus Anlass des runden Geburtstags den ganzen Jahrgang 1971. Das tun wir, weil wir es wichtig finden, diesen Transfer zwischen 1971 und 2020 deutlich zu machen. Er ist besonders reich, weil damals so viele Sachen im Schwange waren, die heute noch sehr akut sind. Filme, die damals als Agenten des anti-kolonialen Kampfes fungierten, können heutige Auseinandersetzungen mit Rassismus und Postkolonialismus bereichern. Gleichermaßen gilt das für feministische Filme. EINE PRÄMIE FÜR IRENE von Helke Sander zum Beispiel ist frappierend, wie das einerseits Lichtjahre entfernt wirkt und doch extrem nahe. Es wird weiterhin Filmgeschichte im Forum geben, das ist auch programmatisch wichtig. Ich habe kürzlich einen frühen Film von Angela Schanelec wiedergesehen: ICH BIN DEN SOMMER ÜBER IN BERLIN GEBLIEBEN lief 1994 im Forum. Plötzlich sieht man da eine Berliner Telefonzelle mit diesem schmutzigen Gelb. Das ist ein Berlin, das ich kannte, das war mal da, und heute gibt es das nicht mehr. An diesem Detail, an dem Bild einer Telefonzelle, kann man sehen, dass jeder Status quo immer eine Offenheit in sich trägt. Die Dinge sind nicht mit sich identisch. So würde ich auch das Politische verstehen. In der Auseinandersetzung mit Filmgeschichte kann man eine grundsätzliche Veränderbarkeit begreifen. Das betrifft auch mediale Aspekte. Die Erfahrung analogen Films kann eine Differenzerfahrung sein für Leute, die heute 18 sind. Das gilt auch im Hinblick auf die Weltkarte des Kinos. Früher suchte man die Welt nach unbekannten Territorien ab, wo man Kino-Schätze hob und mit nach Hause brachte. Das hatte etwas von einer kolonialistischen Logik. Das ist vorbei, zum Glück, aber das heißt nicht, dass die Suche nach neuen Weltzugängen aufgegeben wird.