Der Begriff des „kulturellen Erbes“ ist zu einem kulturpolitischen Leitbegriff geworden. Im Filmbereich erfüllt die Kategorie eine Schlüsselfunktion bei der Verteilung von Ressourcen für die Archivierung, Bewahrung und Präsentation. Im Vordergrund steht dabei eine engere Bestimmung des Konzepts, die kulturelles Erbe als nationales Erbe versteht und Filmkulturpolitik so auf den Rahmen des Nationalstaates bezieht. „Heritage“, so der Filmwissenschaftler Vinzenz Hediger in einem Beitrag zur Archivarbeit des Arsenal, „hat sich mithin als eine der Leitkategorien einer Wissensordnung der Filmkultur etabliert, die für die Wahrnehmung, die Einordnung und das Nachleben künstlerischer Arbeiten, aber auch ephemerer Filmgattungen und Archivmaterialien weitereichende Konsequenzen hat“.
Aufgrund ihrer Transnationalität entzieht sich die Sammlung des Arsenal der Zuordnung zu einem bestimmten Strang eines nationalen Kulturerbes. Doch eignet sie sich umso mehr als Laboratorium für die Überprüfung und kritische Reflexion der Kategorie des filmischen Erbes und des Umgangs damit. Begriffe wie „Länderschwerpunkt“, „Weltkino“ oder „Filmland“ haben in der Geschichte des Forums eine große Rolle gespielt, die sich im Archiv abbildet. Auch sie werfen Fragen auf: Welche Verantwortung hat das Arsenal als westliche und öffentlich geförderte Institution über die Jahre hinweg durch eine solche programmatische Ausrichtung auf sich genommen? Wer hat diese Begriffe erfunden und vor welche Aufgaben stellen sie uns in der Gegenwart? Anders als es das Konzept des nationalen Kulturerbes vorsieht, kann eine Digitalisierung dadurch motiviert sein, einen Film, der aufgrund der deutsch untertitelten Kopie nur im Arsenal überlebt hat, in sein Ursprungsland zurück zu bringen. In einem solchen Fall kann die Institution, die die Digitalisierung vornimmt, auch keine Rechte daran beanspruchen. Archivarbeit ist weit mehr als eine Beschäftigung mit dem Material. Archivarbeit ist politische Praxis.
Es sind längst nicht mehr nur Filmhistoriker*innen, sondern auch Wissenschaftler*innen anderer geisteswissenschaftlicher Fächer sowie unabhängige Kurator*innen, Film- und Kunstschaffende, die Archive aufspüren und im Rahmen ihrer Projekte versuchen, sichtbar zu machen, was dort bislang verborgen war. Es bilden sich Netzwerke und Plattformen. Universitäten richten neue Studiengänge ein, so jüngst in Nigeria, wo die University of Jos und die Nigerian Film Corporation in Kooperation mit dem Masterprogramm „Filmkultur: Archivierung, Programmierung, Präsentation“ an der Goethe Universität Frankfurt, dem DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum, dem Arsenal und der Lagos Film Society einen praxisorientierten Archiv-Masterstudiengang anbieten.
In Indonesien, in Uruguay, in Ägypten, im Sudan, in Guinea-Bissau, in Nigeria, in Angola werden Filmkopien und ganze Sammlungen aufgespürt, übrigens immer wieder von jungen Film- und Kinoschaffenden, die nach verlorenem Material suchen oder bei der Gründung neuer oder der Reaktivierung alter Kinoräume oder Kopierwerke darauf stoßen. Dabei kommen allein bei den Projekten, in die das Arsenal eingebunden ist, zahlreiche Querverbindungen zum Vorschein: Wer hat zum Beispiel gewusst, dass die ägyptische Dokumentarfilmerin Atteyat Al Abnoudy mit der gleichen Kamerafrau gearbeitet hat wie Helke Sander in Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – Redupers? Was hat ein ägyptischer Archivar in seinen Bericht geschrieben, als er 1966 nach Ost-Berlin geschickt wurde, um zu lernen, wie man ein Filmarchiv betreibt? Kam der Kopierfehler in Monangambeee dadurch zustande, dass die Kopie eilig außer Landes gebracht werden musste?
Monangambeee! – Ein Ausruf, mit dem eine Versammlung einberufen wird. Die Filme haben sich bereits versammelt. Nun braucht es diejenigen, die sich mit ihren Fragen, ihrem Wissen und ihrem Forschungsinteresse dazugesellen. Sie nehmen nicht weg, sondern fügen hinzu. Seine Nutzer*innen machen aus dem Archiv eine Produktionsstätte.
Counter Archives setzen die Archivlandschaft in Bewegung. Sie rufen nach Gegenentwürfen, nach neuen, zeitgemäßen Konstellationen. Wie die Filme, die sie beherbergen, entwickeln sie eine neue Sprache, neues Wissen und neue kulturelle, gesellschaftliche und politische Handlungsräume und -möglichkeiten – die wir derzeit dringend benötigen.