Direkt zum Seiteninhalt springen

Das Jahr 1971 war ein Wendepunkt: mit tadellosem post-68er Timing markiert es den endgültigen Beginn der Filmkultur der 1970er Jahre, ein goldenes Zeitalter filmischer Neuerungen und politischen Aktivismus. Wie passend, dass es auch die Geburtsstunde des Forums war, das sich aus der Nachkriegszeit und den Kulturvorstellungen der alliierten Generäle losriss und für eine Neuausrichtung des Kinos auf die Barrikaden ging. Es teilt diesen Entstehungszeitpunkt mit der Gründung des Pacific Film Archive (heute BAMPFA) in den USA, das im selben Jahr nach dem Vorbild der Cinémathèque française erstmals Filme zeigte. Die frühen siebziger Jahre führten eine ganze Generation an ernsthafte Filmbetrachtung, Programmgestaltung und wissenschaftliche Forschung heran.

In der Bundesrepublik Deutschland, wie auch andernorts, war die Politik im Wandel begriffen, nach links wie nach rechts. Die Baader-Meinhof-Gruppe (Rote Armee Fraktion) hatte sich 1970 formiert und ihre ersten Entführungen und Bombenanschläge verübt. Im selben Jahr realisierte Ulrike Meinhof ihren ersten (und letzten) Film BAMBULE (in der Regie von Eberhard Itzenplitz, geschrieben von Meinhof), dessen Ausstrahlung im Fernsehen untersagt wurde, nachdem Meinhof untergetaucht war. Die Verbindung zwischen radikaler Politik und Filmemachen ist also schon vorhanden, zu erahnen. Der Film handelte von Mädchen in einem Erziehungsheim, ein Thema, das die schwedische feministische Regisseurin Mai Zetterling ein Jahrzehnt später aufgriff.

In den USA war es die Zeit der Newsreel-Kollektive, die Filme zur Unterstützung der lang erwarteten „Revolution“ machten, in denen aber Frauen viel zu lange außen vor blieben, ihre Handlungsmacht fehlte in den neuen Darstellungsformen wie in der Politik der Neuen Linken und den sozialen Strukturen der Ära – zum Teufel mit der freien Liebe. Die erste Ausgabe des Forums kam gerade zum rechten Zeitpunkt und fiel mit einer weltweit dominierenden rigorosen Politik und laufender Empörung zusammen. In den USA brachte der Frühling 1970 die Bombardierung Kambodschas, die Black-Panther-Prozesse in New Haven, einen landesweiten Student*innenstreik aufgrund der maßlosen Politik der Regierung (ja, damals gingen die Amerikaner*innen noch auf die Straße) und das Kent-State-Massaker, bei dem am 4. Mai 1970 bei einer Demonstration an der Kent-State-Universität vier Student*innen von der Nationalgarde erschossen wurden.

Am 9. August 1970 kam es zum Tod von Jonathan Peter Jackson, dem jüngeren Bruder von George Jackson, worauf die Eröffnungsszene von Yolande du Luarts Zeitkapsel ANGELA – PORTRAIT OF A REVOLUTIONARYBezug nimmt, die in der ersten Ausgabe des Forums zu sehen war. „Wir, das Volk, sind die Macher der Geschichte.“ Du Luart war eine französische Filmemacherin, die zeitgleich mit den hochgelobten „L.A. Rebellion“-Filmemacher*innen an der UCLA studierte und in der jungen, von Kaliforniens Gouverneur Ronald Reagan angegriffenen Angela Davis ihr ideales Subjekt fand.

Du Luart kehrte, nachdem sie Berichten zufolge vom FBI bedrängt wurde, zum Fertigstellen des Films nach Frankreich zurück, aber ihr Zeugnis dieses besonderen Augenblicks verlangt heute nach einer gebührenden Wiederentdeckung. Angela Davis ist noch immer eine Heldin ihrer Zeit, aber hier ist sie jung und leidenschaftlich und befindet sich in Haft, sie ist noch nicht die Ikone von heute, aber ebenso brillant. Du Luart befolgte die erste Regel des Dokumentarfilms: Wähle deine Protagonistin gut aus. Das tat sie bei Professorin Davis. Was macht Yolande du Luart heute? Sie verdient eine Medaille für ihre Vorausschau.

Im ersten Forum-Programm lief auch THE WOMAN'S FILM (von Louise Alaimo, Judy Smith, Ellen Sorrin) des Newsreel-Kollektivs San Francisco. Eine scheinbar einfache, teils banale Dokumentation desillusionierter Frauen aus der Arbeiterschicht – Schwarze, Weiße, Latinas – die ruhig und doch unverblümt vor der Kamera über ihr Alltagsleben, ihre Familie, das Gefängnis der Ehe und die Arbeit sprechen und sich diesen Moment zu eigen machen. Obwohl sie sich ihren Mangel an Bildung eingestehen, sprechen sie mit bestechender Intelligenz über ihren Platz in der Gesellschaft, ihre geringen Aussichten und über das kollektive Projekt des Filmemachens.

Eine Streikpostenkette skandiert „Beendet den Krieg/gegen die Armen“, dann der Wechsel zu Meinungsbildungsgruppen bei der politischen Analyse – Popmusik, Photographien, Überwachungsaufnahmen und direkte Ansprache werden im Film kombiniert und zu einem schwarz-weißen Text verwoben, der von Energie und Hoffnung erfüllt ist und ja, auch Tanz auf den Straßen. Die Montagen von Frauen bei der Arbeit haben wohl Lizzy Borden in ihrem bahnbrechenden Film BORN IN FLAMES zu ähnlichen Kamerafahrten, die entfremdete Arbeit zeigen, inspiriert. Dieser Film lief auch im Forum, im Jahr 1983, und schaffte aus dokumentarischen Bildern und mit seinen groben Aufnahmen, gespendetem Filmmaterial und kollektiven Aktionen ein Hybrid aus radikaler Erzählung und sexueller Vision.

Nicht alle radikalen US-amerikanischen Dokumentarfilme dieser Zeit waren feministisch, so viel steht fest, und nur wenige stammten von Frauen. Es ist großartig, dass Mike Greys und Howard Alks THE MURDER OF FRED HAMPTON nun wieder eine zentrale Position in der Geschichte des Dokumentarfilms einnimmt und daran erinnert, dass selbstgemachte Dokumentationen wie diese in der Fernsehmonopolära vor Kabelfernsehen und Internet der einzige Weg waren, Informationen zu verbreiten. Gleichzeitig zeugt das Werk vom regionalen und erheblichen Einfluss der Newsreels: Chicagos Kartemquin Films ist aus dieser Bewegung hervorgegangen und heute ein wichtiges Zentrum für engagierte, kommunal verankerte und hochprofessionelle Dokumentarfilme (Kartemquins Co-Gründer Quinn erinnert sich, wie er Bobby Roth versteckte, damals noch Black-Panther-Mitglied, weil er fürchtete, dieser könnte ermordet werden).

In Berlin hielt Helke Sander das Banner einer feministischen Vision hoch, sowohl als Filmemacherin als auch als Kritikerin. Ihr erster Film EINE PRÄMIE FÜR IRENE lief 1971 im Forum. Welch eine Entdeckung! Mit diesem Zugewinn fühlt es sich an, als würden Frauen über die Weltmeere hinweg miteinander sprechen und ihre Stimmen in einem globalen harmonischen Einklang der Empörung finden. Wie auch in ihrem nächsten, bekannteren Film DIE ALLSEITIG REDUZIERTE PERSÖNLICHKEIT – REDUPERS verwendet Sander eine frühe hybride dokumentarisch-fiktive Form zur Schilderung des Daseins von Frauen an ihrem Arbeitsplatz und daheim, ohne die dabei aufkommende feministische Subjektivität zu tilgen. Genau genommen bleibt es den gesamten Anfang des Films hindurch unklar, welche der Frauen Irene ist, was deutlich zum Ausdruck bringen soll: wir alle. Irene ist eine großartige Heldin, die von ihren Kolleginnen und Kindern gefeiert und von ihren Chefs und regelkonformen Nachbar*innen verabscheut wird. Sander porträtiert präzise die durch den Feminismus ausgelöste Störung etablierter Gewohnheiten. Es überrascht daher nicht weiter, dass Sander 1974 die feministische Filmzeitschrift „Frauen und Film“ gründete.

Zu diesen Filmen von 1971 passt der diesjährige Forumsbeitrag GLI APPUNTI DI ANNA AZZORI / UNO SPECCHIO CHE VIAGGIA NEL TEMPO (THE NOTES OF ANNA AZZORI / A MIRROR THAT TRAVELS THROUGH TIME) von Constanze Ruhm, der frühe Dokumentaraufnahmen zu einer leidenschaftlichen Betrachtung der Vergangenheit und Gegenwart von Geschlechterbeziehungen umformt. Das Quellmaterial, der zwischen 1972 und 1975 entstandene Film ANNA des italienischen Regisseurs Alberto Grifi und des Schauspielers Massimo Sarchielli, dokumentiert einige Monate im Leben der obdachlosen Anna Azzori, die schwanger und drogenabhängig von den Filmemachern gerettet/instrumentalisiert wird und den beiden ein Thema liefert, mit dem sie „wie Zavattini“ sein können (ja, wortwörtliches Zitat).

Wenn Anna bereits 1971 fertiggestellt worden wäre, hätte ihn die feministische Filmkritik sicherlich beanstandet. Stattdessen verwendet Ruhm den Film als Archivmaterial, um dessen eigenes Remake zu machen, was für sich genommen einem Herumgeistern der Vergangenheit in der Gegenwart gleichkommt und umgekehrt. Der neue Film ist eine Replik in Farbe: Ein Dutzend Frauen sprechen für die Originalrolle vor und werden dann als ein Vielfaches positioniert. Zahlenmäßige Überlegenheit? Vielleicht. Der Effekt ist allerdings eher gegenteilig: ein Set von Doppelgängerinnen spricht mit einer einzigen Off-Stimme, die von den Toten aufersteht, und stößt auf dem Soundtrack ein Klagelied an. Außerdem ist das Originalmaterial gar nicht Film, nicht einmal 16-mm-Film, sondern frühes, schmutziges Videomaterial (mit Hilfe des „Vidigrafo“ auf 16 mm kopiert), also die in den 1960er Jahren entwickelte Portapak-Technologie, die mit dem Einzug der Digitalisierung verschwunden ist. Was feministische Einflüsse anbelangt, klingen in GLI APPUNTI DI ANNA AZZORI... die Arbeiten von Lynn Hershman-Lesson an, als wären ihre feministischen Schwarz-Weiß-Videotagebücher mit ihrer späteren Glanzleistung Teknolust und deren Multibildern zusammengeworfen worden.

Die Synchronizität von Bild und Medium in GLI APPUNTI DI ANNA AZZORI... hat einen kraftvollen Effekt, vor allem in den flüchtigen Blicken auf frühe Dokumentation: eine gigantische Demonstration von Frauen skandiert: „In der Familie sind Männer die Bourgeoisie und Frauen das Proletariat.“

Geschwader von Frauen bilden mit ihren Fingern ein Dreieck, um Vaginas zu symbolisieren, Sprechchöre gegen Zwangsräumung werden angestimmt, Radio Daphne überträgt und es gibt sogar ein Zitat der wegweisenden italienischen Feministin Carla Lonzi. Es ist eine utopische Vision. Noch dazu eine fröhliche: Aus dem Off erinnert sich eine Frauenstimme, dass sie nie so viel Spaß hatte wie mit dem Feminismus.

„Wir sind die Protagonistinnen unserer Geschichte“
– Zwischentitel, GLI APPUNTI DI ANNA AZZORI

Ein überraschendes Element, das sowohl in den Wiederaufführungen als auch diesem neuen retrospektiven Film zum Vorschein kommt, ist, welche bemerkenswerte Kraft die Schwarz-Weiß-Aufnahmen auch noch im Jahr 2020 auf den Betrachter/die Betrachterin ausüben. Ursprünglich entsprachen sie lediglich dem Standard. Alles war schwarz-weiß, die 16-mm-Filme ebenso wie die Photographie. Es war der dominierende Ausdruck und die einzig vorhandene Technologie. Damals wirkte schwarz-weiß primitiv und entsprach der Zwangsformel von Julio García Espinosas theoretisch einflussreicher Kategorie des „Imperfekten Kinos“, bei dem das Medium zur Botschaft passt und die Ästhetik zu den vorhandenen Mitteln. Dennoch hat sich schwarz-weiß durch eine Aussetzung der Ungläubigkeit, die sogenannte „willing suspension of disbelief“, eingebürgert, einhergehend mit der Überzeugung, dass der Schwarz-Weiß-Film trotz seiner inhärenten Unnatürlichkeit die „realere“ Darstellung, das authentischere Leben repräsentiere.

Schwarz und weiß war damals auch der Zustand des geteilten Deutschlands, dessen Filmwelt sich auf der Berlinale traf. Der stetige Fluss von DAAD-Stipendien brachte zahlreiche Künstler*-innen nach Westberlin – mit Farbfilm im Gepäck. Die Filmemacherin und Choreographin Yvonne Rainer gehörte zu diesen Gästen. Sie kam mit einem DAAD-Stipendium von 1976 bis 1977 und hatte einen Gastauftritt auf Rollschuhen in Ulrike Ottingers wunderbar versponnenem Film MADAME X: EINE ABSOLUTE HERRSCHERIN. Rainer machte sich an die Arbeit von JOURNEYS FROM BERLIN/1971 (dessen Titel auf das Geburtsjahr des Forums anspielt, der Film aber erschien 1980). Inspiriert wurde sie dabei von Ulrike Meinhof und der damaligen radikalen Politik, der anarchistischen Vergangenheit ihres eigenen Vaters, den psychoanalytischen Bedenken der Intellektuellen von New York und Berlin und ihrem eigenen Aufenthalt in der Stadt. Rainer engagierte für den Film unter anderem die Wahlberlinerin Cynthia Beatt.

Beatt arbeitete später mit Tilda Swinton zusammen, unter anderem bei CYCLING THE FRAME (1988) und INVISIBLE FRAME (2009), in denen die beiden die Grenzziehung der Berliner Mauer erkunden, noch während ihres Bestehens und später nach ihrem Fall. Auf der Berlinale von 1986 war Tilda Swinton mit Derek Jarmans CARAVAGGIO vertreten, ihr Spielfilmdebüt und ihre Premiere auf dem Filmfestival (noch nicht beim Forum). Freundschaften entstanden. Berlin war ein Schmelztiegel für filmische Neuerungen, ein Ort der Inspiration. Wenn Oberhausen oder München die Wiege des Neuen Deutschen Films waren, hatte Westberlin sich zu einem nahezu magischen Schauplatz entwickelt, an dem das Kino neu erfunden werden konnte. Die Stadt wurde zum Ziel für Künstler*innen und zog Nomad*innen auf der Suche nach neuen Filmsprachen und -themen an. Der Status von West-berlin zwischen 1949 und 1990 als der Ort, an dem BRD und DDR aufeinandertrafen und wo sich Ideologien aus Ost und West aneinander rieben, machte das Forum zum schlagenden Herz seines filmischen Seins.

Der Feminismus wurde damals zum Lebenselixier des deutschen Kinos. Neben Sander gab es wichtige wegweisende Filmemacherinnen wie Margarethe von Trotta, die in den 1970er und 1980er Jahren beim Forum und der Berlinale vertreten war. Ihr Film DIE VERLORENE EHRE DER KATHARINA BLUM (1975) war eine Offenbarung und DAS ZWEITE ERWACHEN DER CHRISTA KLAGES von 1978 wurde zu einer Bibel für feministische politische Aktionen (zumindest für mich). DIE BLEIERNE ZEIT aus dem Jahr 1981 lieferte eine dringend notwendige weibliche Sicht auf die Geschichte der Roten Armee Fraktion.

Ulrike Ottingers BILDNIS EINER TRINKERIN wurde im Jahr 1979 uraufgeführt, aber sicherlich bereits ein Jahr zuvor konzipiert, als Patricia Highsmith 1978 den Juryvorsitz der Berlinale innehatte und bekannterweise in betrunkenem Zustand für Ottingers Star und damalige Partnerin Tabea Blumenschein Feuer fing. Der Chor der drei weiblichen Funktionäre im Film, treffend bezeichnet als Soziale Frage, Exakte Statistik und Gesunder Menschenverstand, liefert Kommentare, die einer Sprache sozialer Kontrolle verhaftet sind, während Ottingers Figuren sich daran machen, gegen alle Regeln zu verstoßen.

So viele Frauen machten damals Filme und reisten nach Berlin und zum Forum, um uns aufzuklären, es ist schier unmöglich, sie alle aufzuzählen. Vor allem in Osteuropa herrschte eine Blütezeit mit Márta Mészáros, Lana Gogoberidze, Agnieszka Holland (auch in diesem Jahr dabei) und vielen anderen. Vera Chytilovás großes Meisterwerk DAISIES entstand schon vor der Gründung des Forums und lässt mich noch immer nicht los. Dann diese Energie in Frankreich: Agnès Varda, Annie Tresgot (1971), Chantal Akerman. Sarah Maldoror nahm im Jahr 1971 mit ihrem Frühwerk MONANGAMBEEE am ersten Forum teil und kehrte im Jahr darauf mit ihrem erfolgreichstem Film SAMBIZANGA zurück. Im Jahr 1983 zeigte Sally Potter ihr experimentelles Meisterstück THE GOLD DIGGERS mit Julie Christie in der Hauptrolle, bei dem sie mit Rose English und Lindsay Cooper zusammenarbeitete. Regisseurinnen pilgerten nach Berlin und zum Forum und tun es noch heute. Vor zwanzig Jahren schrieb ich folgende Zeilen über diesen Schlüsselmoment für Frauen und das Kino:

„… zu Beginn der 1970er Jahre ging ein feministisches Kino an den Start. Statt des formalen und inhaltlichen Bankrotts der Väter herrschte eine neue und andere Energie: ein Kino der Unmittelbarkeit und positiven Kraft stellte sich der Flucht in die Gewalt und dem Wiedererwecken einer toten Vergangenheit entgegen, die zu den dominierenden Stützen des Kinos geworden waren. Statt der zunehmenden Fremdheit und Isolierung der Söhne herrschte ein vollkommen neues Gespür für Identifikation – mit anderen Frauen – und die entsprechende Bereitschaft, mit dem jetzt identifizierbaren Publikum zu kommunizieren, eine Bereitschaft, die für die feministischen Filmemacherinnen das schwer greifbare Publikum ersetzte, das von den formalistischen männlichen Filmemachern ignoriert und insgeheim verachtet worden war. Von Anfang an verlieh daher die Verbindung zu einer aufkommenden politischen Bewegung dem feministischen Kino eine Kraft und Richtung, die im Independent-Kino vollkommen beispiellos war und traditionelle Themen wie Theorie/Praxis, Ästhetik/Bedeutung, Prozess/Repräsentation in den Blickpunkt rückte.“

Und heute? Hat das Kino noch die Macht, die es damals hatte, als das Forum aus einer Krise der Berlinale heraus gegründet worden war und sich ihm ein unauslöschlicher Geist aus Mut und Neuerung einprägte? Schon früher hatten die Weimarer Republik und die Sowjetunion Film als Transformationsmedium für sich in Anspruch genommen, dann wurde der Film von den Nazis für ihre eigenen Zwecke gekapert und später im Gegenzug vom lateinamerikanischen Widerstand im Kampf gegen Diktaturen zurückerobert.

In Hongkong haben Demonstrant*innen Poster mit Bruce Lees Worten „Sei wie Wasser“ in die Höhe gehalten. Der brasilianische Präsident und Möchtegerndiktator Jair Messias Bolsonaro hat Poster brasilianischer Filme von den Wänden der Förderungsanstalten, die diese Filme gefördert haben, verbannen lassen. In den USA zucken die Leute mit den Schultern und die Academy stimmt für Monumentalwerke im Stil vergangener Größe, die sich lieber auf das Hollywood der 1970er Jahre beziehen, als Ästhetiken und Themen abzubilden, die das 21. Jahrhunderts braucht.

Wo sind also die Filme, nach denen die Krisen von 2020 verlangen? Steckt die Energie wirklich nur in den Serien, die die Streaming-Anbieter mit ihren True-Crime-Geschichten und Mystery in Hülle und Fülle anbieten, mit rasch fesselnden Erzählsträngen und hohem Produktionsaufwand? Was entspricht heute der vergangenen Radikalität? Hmm, vielleicht RUSSIAN DOLL. Wo ist das #MeToo-Genre, das auf die Beleidigungen, Verbrechen und Geheimnisse der Vergangenheit abgestimmt ist, auf Enthüllung und Renommee ohne Angst vor Wut, Empörung und Racheakt? Wie würde eine amerikanische Version von PARASITE aussehen, bei der die Unterschicht in den Zelten und Straßenlagern von San Francisco leben und die Luxusvilla in Malibu oder den Hamptons stehen würde?

Und wo ist der Beweis für den Einfluss von THE WOMAN'S FILM heute? Rachel Lears Netflix-Dokumentation KNOCK DOWN THE HOUSE machte zweifelsohne Mut mit ihrem inspirierenden Blick auf Alexandria Ocasio-Cortez (AOC) und ihren Aufstieg zur Berühmtheit, aber niemand würde dieses „Follow the babe“-  Glück als radikales Filmemachen missdeuten. Das gilt auch für die Dokumentation RBG von Betsy West und Julie Cohen, die allen Zuschauer*innen Einblick in die Unbeugsamkeit von Ruth Bader Ginsburg, Richterin am Supreme Court, gewährt – möge sie ewig leben.

Beide Filme sind erfrischend spaßig und normativ und dokumentarisch, aber Frauen dürsten noch immer nach jenem phantasievollen Treibstoff und Visionen einer Zukunft, für die schnell, dringend und verzweifelt gekämpft werden muss. Mag die alte Post-68er-Idee, dass Form und Inhalt gleichermaßen radikal sein müssen, um eine Revolution auszulösen, heutzutage auch etwas ungewöhnlich erscheinen, ist doch noch immer ein Körnchen Wahrheit dran.

Wir befinden uns erneut in einer Ära der Film-/Fernseh-/Streaming-Hypnose, sind unserer Handlungsmacht beraubt und werden vor allem als Frauen auf die Rolle von Konsumentinnen äußerst befremdlicher Bilder und Geschichten reduziert. Das muss sich ändern: bitte nicht noch eine Studie über Gender-Repräsentationen, sondern eine massive Verabreichung von Phantasie und das nötige Geld, um diese auf die Leinwand zu bringen. Wir brauchen Handlungsmacht, nicht Handlungsträger.

Mit Cristina Nord als Leiterin des Forums und Stefanie Schulte Strathaus an der Spitze des Forum Expanded übernehmen beide Foren weiterhin eine Vorreiterrolle in einer von männlichen Festivalleitungen dominierten Welt, in der weder Pseudo-Geschlechterneutralität („Das Geschlecht spielt für mich keine Rolle.“) noch ernstgemeinte Quotenregelungen (Frauen und Prozente zählend) die fehlende Vorstellung von einem Kino kompensieren können, in dem Frauen ihren natürlichen, selbstverständlichen und herausragenden Platz auf höchster Ebene der filmischen Innovation, Bestimmung und Einflussnahme haben. Vielleicht werden die Vorführungen und Podiumsdiskussionen am 27. Februar 2020 dazu beitragen, dass das Publikum, die Filmemacher*innen, Wissenschaftler*innen und Künstler*innen des Forums im Dialog einen neuen Pfad einschlagen können, wenn nicht sogar einen optimistischen. Vielleicht sind es die jungen Frauen mit ihren iPhones, die einen neuen Raum kreieren können, vielleicht. Allerdings nur, wenn sie von ihren Geräten aufschauen, furchtlos einander in die Augen blicken, Studienkredite, geschlechtsspezifische Gewalt und Onlinesucht abschütteln und eine filmische Revolution inszenieren. Sie wird nicht wie die vorherige aussehen, aber wir brauchen sie. Ich hoffe, sie beeilen sich.

Gefördert durch:

  • Logo des BKM (Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien)
  • Logo des Programms NeuStart Kultur