Das Purpurmeer
Du kommst aus den Bergen, ich komme vom Meer. Unsere erste Begegnung, in dieser Hinsicht, ein Kompromiss: Istanbul. Ich folge dir steile Gassen hoch und runter, am Ende der freie Blick auf den Bosporus. Ein Mann verkauft uns Tee aus dem Kofferraum seines goldenen Mercedes, der aus dem letzten Jahrtausend stammt. Meine Seele jubelt, deine ist schwer. „Ich kann das Meer nicht ausstehen“, sagst du. Das Schweigen breitet sich aus und senkt sich wie ein Schleier über uns, die Stadt, die Autos, die Menschen, die Katzen, das Wasser, das augenblicklich seine blaue Farbe verliert. Der alte Mann sieht irritiert auf, sein Mercedes ist jetzt nur noch ockerfarben.
Wir stochern herum in den Fragen, die zwischen uns stehen. Warum ist Khaled in meiner Stadt und du nicht? Warum kann ich seine Sachen in meinem Koffer mitnehmen und dich nicht? Mein letzter Blick zurück: Du und dein Kater, ein winziger Körper zwischen lauter Fell, das einen fließenden Übergang zu deinen wilden Haaren bildet, so fest drückst du ihn an deine Brust. Später wird auch er, der Kater, als Handgepäck eines Fremden das Flugzeug besteigen und nach Berlin gehen.
Du kommst aus den Bergen. Dein Dorf teilst du mit einem berühmten Widerstandskämpfer gegen die Franzosen, als Syrien noch Kolonie war. Auch Syrien, stimmt, hätte ich fast vergessen, oder wusste ich das je? Will man uns vergessen machen? Will uns weismachen, der Nahe Osten sei ein Pulverfass, das sich wieder und wieder selbst entzündet. Bis niemand mehr fragt, wer einst tief unter dem Sand die Lunten verlegte. Fotos auf deinem Laptop. Letzte Erinnerungen für wer weiß wie lange. Sie scheinen zu verblassen, auch wenn das nicht sein kann. Während wir sie anschauen.
Was du mit Farben anstellst, ist mir unerklärlich.
USA, Deutschland. Abgelehnt. Antrag auf Studienplatz: abgelehnt. Antrag auf Familienzusammenführung: abgelehnt. Khaled fort. Seine Sachen fort. Der Kater fort. Du lebst auf Skype. Deinen Körper bearbeitest du im Fitness-Studio, während der Kopf in der Standleitung bleibt. So geht es nicht weiter, Medusa, es ist kein Perseus, der dich enthauptet, sondern die Verhältnisse auf der Welt. Du brauchst einen Dienstleister, den besten. Die Agenturen sprießen wild, ebenso die Gerüchte: Preis-Leistungs-Verhältnis, Sicherheit, Qualität, Lieferzeiten – Angebot und Nachfrage. Nichts ist umsonst. Durchkapitalisierte Welt von der Mall bis ins Mittelmeer.
Inneres Exil. Dein Elternhaus, Museum deiner Kindheit. Kein gelebtes Leben, schon vor dem Krieg nicht mehr, seit deine Eltern sich getrennt haben. Ganz banal, so was passiert auch in Syrien. Dein Vaterhaus. Überwucherter Garten. Möbel. Ein Haus, in dem er ab und zu nach dem Rechten schaut, wie um sich zu vergewissern, dass es ihn selbst immer noch gibt. Dein Vater: Idealist, Genius. Deine Liebe, die Liebe einer Tochter, bedingungslos und ewig, nimmt er mit wie alles, was ihn davon abhält, sich das Leben zu nehmen. Doch dass ihr ihn davon abhaltet, macht ihn unberechenbar.
Du kommst aus den Bergen. Du hast dein Dorf mitgenommen, es ist eine winzige, metallene Kassette, zu der nur du einen Schlüssel besitzt. Du bist süchtig nach dem Inhalt dieser unzerstörbaren Box. Es braucht nur den Moment, in dem der Kern des Granatapfels platzt und der Saft deine Geschmacksnerven trifft, der im Vorbeigehen eingeatmete Duft eines Jasminstrauches, ein einziges Wort in einem Gespräch, das sich um etwas völlig anderes dreht –
Und du bist weg.
Du bist fünf. Ihr rennt durch das Dorf. Deine Füße spüren den schwarzen Stein des Drusen-Gebirges, warm von der Sonne, unverwechselbar. Ihr wollt zum Wadi, die Steine halten das Wasser, es ist ganz flach, nur in der Mitte gibt es eine tiefe Stelle. Dort sehen sie kurz darauf deine langen Haare wie Wasserschlangen sich winden. Hast du gegen das Ertrinken gekämpft? Oder hast du dich dem Wasser hingegeben? Bist der Stille entgegengeschwebt, vergessen die Stimmen der Kinder, das Rauschen des Windes in den hohen Bäumen, die den Wadi umstehen? Der dunkle Basalt, kein Licht, kein Ton. Die Rückkehr ins gleißende Sonnenlicht, Schreie prallen auf deine Trommelfelle, schmerzende Luft füllt deine Lungen. Vielleicht hast du seit jenem Tag die samtene Stille in dir, eingeschlossen in deinem Inneren.
Du brauchst einen Reisebegleiter, den besten. Noch ein Foto: Gruppe von Freunden, sie sitzen zusammen, rauchen, trinken, vielleicht gibt es was zu feiern. Sie sind jung, ihnen steht die Zukunft ins Gesicht geschrieben. Du sagst, die Erinnerung an deine Jugend ist gelöscht. Komplett weg. „Ist das ein Generationsproblem?“, fragst du mich. Es gibt keine Verbindung zwischen den Orten von damals und den Orten von heute, den Orten des Krieges:
I can’t imagine that it is the same place that is bombed.
Da ist er ja. Er lacht in die Kamera. Unbeschwert, so kenne ich ihn gar nicht. Du in Istanbul, er immer noch in Damaskus, der Letzte aus eurer alten Clique. Du rufst ihn an.
Facebook. Du bist 24. Du schreibst. Du schreist. Lauter als die anderen. Du schreibst an gegen Erstarrung, die das Land vor langer Zeit erfasst hat. Die Revolution ist vielstimmig, deine Stimme ist eine von vielen. Du hörst sie alle, jede einzelne. Ihr seid verbunden – über Facebook, auf den Straßen – ein Strom, ein Stream. Du fühlst dich nicht allein. Die Stille ist verstummt. Für einen kurzen Moment, nur ein Blinzeln der Geschichte. Dann kommt sie zurück, mit aller Macht. Der Krieg ist laut? Wir stellen uns das vor, aber die, die dort sind, erleben es anders. Der Krieg macht die Menschen taub und stumm. Wie ein Film ohne Ton, zittriges Leben auf zweidimensionaler Leinwand, ein Funke reicht und sie geht in Flammen auf.
Du bist 13. Seit kurzem trommelst du für Assad. Du schlägst die Trommel so laut du kannst. Es lebe die Baath-Partei! Du trommelst, du sprichst viel jetzt, hältst den anderen in deiner Klasse Vorträge. Du agitierst für das System mit derselben Inbrunst, mit der du es später hassen wirst. Schwer, dir zu entkommen, dir und deiner Hundertprozentigkeit. Deinem inquisitorischen Blick. Er lässt sie versteinern, die Unentschlossenen, die Zaghaften.
Der Typ von der Agentur denkt, du bist eine Freundin von dem, der dich als Kundin vermittelt hat. Bist du nicht, aber er scheint dich zu mögen. Du hast zwei Passagen für Mittwoch gebucht. Mittwoch? Seine Nachfrage beiläufig, nicht doch lieber am Freitag, mit ihm, ein kleineres Boot? Du lehnst ab. Entschieden ist entschieden. Die Hundertprozentige übertönt die dunkle Vorahnung der Schweigenden. An deinem letzten Abend in Istanbul besuchst du eine Freundin und brichst unvermittelt in Tränen aus.
Später wirst du dich wieder und wieder fragen, ob er gewusst hat, was passieren würde. Ob das alles kein Zufall war. Die Erinnerung bohrt sich in dein Bewusstsein, lässt dich nicht schlafen, wird zu einem Loop.
Repeat. Play. Repeat.
Dein Vater wird vom Geheimdienst verhört. Man legt ihm nahe, aus der kommunistischen Partei auszutreten. Andernfalls werde sein Name in der Zeitung veröffentlicht. So oder so, für die Genossen ein Verräter. Er, der Lehrer, geht in den Libanon und arbeitet als Fliesenleger. Verräter. Verlierer. Nichts gelingt ihm. Er züchtet Hühner. Überall im Haus sind Tiere. Er sucht nach antiken Münzen aus dem alten Rom auf dem Land deines Großvaters. Die Hühner sterben. Die Antiquitäten verschwinden. Du schweigst. Du siehst ihn an. „Medusa“ nennt dich dein Vater. Du bist 13.
Gestalten in der Dunkelheit, hasten durch die Stadt. Einsteigen, schneller. Ein Kleinbus, graue Vorhänge, hübsch gerafft, zugezogen. Die einzige Verbindung zur Außenwelt ist dein GPS. Verbunden mit Khaled. Verbunden mit einer Gruppe von Freunden, verstreut über die Welt. Du sendest. Du schreibst. Eine Kontrolle. Du siehst das Blaulicht durch die Vorhänge flackern. Der Fahrer dreht sich um. Die Polizisten wollen Geld. Ihr zahlt. Ihr wagt nicht zu atmen. Du schließt die Augen, verwandelst dich in einen kleinen Punkt auf Khaleds Display in Berlin. Das bin ich. So lange dieser Punkt existiert, existiere ich. Augen auf. Weiter.
Du bist 17. Weg aus Syrien. Ausreise. In Katar wird eine Shopping Mall eröffnet. Du hast deine Locken wegmachen lassen. Perfektes Styling, Lächeln für die Fotografen neben irgendeinem Scheich. Nur ein Foto, kein Ton. Und doch höre ich: Er fällt dir nicht leicht, der Small Talk, der sich verliert im plätschernden Akustikdesign unter der Kuppel der Mall. Du spielst hier Leben, das keines ist. So wie das Dorf deiner Kindheit wirst du zu einem Fake, einem sanften Windhauch aus der air condition, der die ängstliche Klasse der Besitzenden besänftigt und ihren Schweiß trocknet. Sie gehen in die Golfstaaten, machen Geld, kommen zurück und bauen Villen. Goldene Säulen. Gated Communities. Auf großen Tafeln das Versprechen eines Lebens in Grün und Blau.
Du lebst bei deinen Geschwistern in Katar. Du hast deine Locken verloren. Um zu testen, ob dein Herz noch schlägt, gehst du auf Demos, organisierst Spendensammlungen und machst ein bisschen PR für die Revolution. Bis dir einer hinter vorgehaltener Hand von einer befreiten Zone erzählt, mitten in Syrien, eine Keimzelle, von der aus eine Zukunft erobert werden soll. Einreise via Istanbul. Dein Bruder weigert sich, dich gehen zu lassen. Du provozierst deinen eigenen Rausschmiss, zwingst ihn, dir selbst das Ticket zu kaufen. Du bist 24. Eine Meisterin der Manipulation.
Du läufst bergauf. Die Sonne brennt. Die Erde ist braun und hart nach einem langen Sommer. Zu eurer Linken klebt das Meer wie ein aufdringlicher Verwandter, es nervt dich, tiefblau. Wieder so ein albernes Versprechen von Ferien an weißen Stränden. Du richtest deinen Blick in die Ferne. Berge im Dunst. Die andere Seite, zum Greifen nah. Ein Kind weint. Jetzt, im harten Licht des Tages, siehst du die Anderen. Das Kind in einem wasserfesten Anzug. Kann kaum alleine laufen.
Istanbul fühlt sich an wie eine Falle. Das Zeitfenster hat sich geschlossen. Kein befreites Syrien, keine Keimzelle der Zukunft mehr, die du nähren kannst mit deinem Hass auf das System. Facebook. Du liest. Der Radiosender, für den du schreibst, wird dichtgemacht. Du schreibst nicht mehr. Du schreist nicht mehr. Du hockst in deiner Wohnung, die Nachbarn sind konservative Leute und schauen neugierig zum Fenster herein bei der, die alleine lebt, die kein Kopftuch trägt, die keiner kennt. „Wenn Sie Männerbesuch haben wollen: kein Problem!“, sagt der Vermieter, ein Bärtiger um die 60. „Ich komme jederzeit gerne bei Ihnen vorbei.“
Endlich seid ihr oben. Du, dein Reisebegleiter, die Mitreisenden. Ihr steht in Gruppen beisammen. Geflüsterte Fragen, die ohne Antwort bleiben, hängen wie Rauchschwaden in der Luft. Wann geht es weiter? Warum warten wir hier? Du klinkst dich aus, setzt dich hin, trinkst aus deiner Wasserflasche, holst deine Kamera raus, filmst ein bisschen. Als wärest du tatsächlich auf einer Reise, von der du Khaled später berichten wirst. Khaled. Du sendest. Ich bin der Punkt auf deiner Karte. Siehst du mich? Whatsapp-Gruppe. Hört ihr mich? Der Empfang ist schlecht. Du starrst auf das Display deiner Kamera. Erst jetzt, in der eingerahmten, eingefangenen Wirklichkeit, siehst du, warum dieser Ort so unheimlich ist: Überall liegen Sachen herum, vergessen, verloren, in der Eile des Aufbruchs liegen gelassen von denen, die vor euch hier waren.
Friedhof der Dinge.
Du bist 25. Erst als du deine Richtung verloren hast, bemerkst du die anderen Gestrandeten um dich herum. Istanbul ist voll von ihnen. Verstörte Wesen, noch so jung und doch schon geisterhaft, die man hier leben lässt, aber mehr auch nicht. Khaled ist einer unter ihnen. Er berührt dein Herz, es schlägt wieder. Endlich.
Nachts. Ihr sitzt am Fuß des Galata-Turms. Ein Junge kommt und fragt nach einer Zigarette. Dann ist deine Tasche weg. Zeitlupe: Du schreist. Der Typ rennt weg. Fast Forward: Die Cops, ein syrischer Pass, viel wert auf dem Schwarzmarkt, den wollen sie wiederhaben. Ihr jagt im Polizeiwagen durch die Stadt, stöbert die ganze Nacht lang Teenager auf. Rausspringen. Knarre an den Kopf. Ist er das? Ist er das? Sie zwingen dich, dir 500 Fotos anzusehen. Ist er das? Du schüttelst den Kopf. Mit dem neuen Tag steigt ein helles, flirrendes Gefühl in dir auf: Dein Pass ist weg. Du musst zurück.
Nach Hause.
Schnell jetzt. Bergab, schneller, die vor dir rennen schon beinahe. Du beschleunigst und versuchst, die Kamera ruhig zu halten. Jetzt, wo es zu spät ist für WhatsApp, keine Zeit, kein Empfang, und wo du einmal angefangen hast, die Sache auf dem Display zu betrachten, brauchst du die Gewissheit des Recordings. Ich zeichne auf, etwas bleibt. Ich verliere mich nicht. Orange, auf und ab in deiner Kamera. Die Leute, du auch, ihr müsst die Schwimmwesten im Gehen überziehen. Orange Westen, blaues Meer. Schmerzhaft schöne Farben.
Du bist 26. Du bist wieder zu Hause. Einreise von Beirut über die grüne Grenze, mit dem Taxi. Du bist bei deiner Mutter. Du bist bei deinem Vater. Zurück im Dorf, das Haus, das Land, die Olivenbäume, hoch rankender Wein. Der Krieg ganz woanders, die Leute hier leben wie im Märchen, sie wollen nicht wahrhaben, was um sie herum geschieht. Selbst in Damaskus, du besuchst deinen alten Freund, ja genau den, der dich später begleiten wird. Ihr geht essen, die Leute tanzen, flirten. In der Ferne ist das Donnern der Gefechte zu hören. Die Realität trifft dich wie ein Schlag im Innenministerium, wo du deinen Pass beantragen musst. Eine Menschenmenge wie ein Schwarm, sirrend zwischen Resignation und Hoffnung. Alle wollen einen Pass, alle raus hier, so schnell wie möglich.
Egal wohin, nur weg.
Das Boot hat zwei Etagen. Es ist so alt, dass du es romantisch finden könntest, an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit, in einem anderen Leben. Jetzt und hier ist es nur alt. Es ächzt unter den Tritten der vielen Menschen, die an Bord drängen. Immer mehr kommen noch, ihr habt euch unterwegs vervielfältigt, multipliziert. Ein Meer aus orangefarbenen Westen. Die Leute von der Agentur sind jetzt nervös, treiben euch zur Eile an. Einer fotografiert mit seinem Handy, sie nehmen es ihm weg. Du fokussierst dich auf deine Kamera, so ein Unsinn, aber du kannst an nichts anderes mehr denken als deinen Wunsch, die Überfahrt aufzuzeichnen. Als sei das eine Versicherung, dass dir nichts geschehen wird. Du befestigst die Kamera an deinem Arm und drückst den roten Record-Button.
Es geht los.
Du zögerst deine Abreise hinaus. Verbringst viel Zeit im Dorf, auf dem Land deiner Vorfahren, ein ruheloser Geist im Haus, das seit langem keiner mehr bewohnt. Der Geheimdienst ruft an. Einmal die Woche. Zweimal die Woche. Du hast Angst. Sie laden dich vor. Sie fragen dich aus. Sie stecken dich nicht ins Gefängnis. Warum nicht? Einer kommt aus dem gleichen Bezirk wie du. Sie wollen keinen Ärger mit den Drusen, die sind so empfindlich, wenn es um ihre Frauen geht. „Our girls“, sagt er. Du fragst, ob du gehen kannst. „Ja“, sagt er mit Nachdruck. Du fährst nach Hause, packst den Kater ein und steigst ins Taxi. Ausreise.
Flughafen Beirut. Du zögerst. In Istanbul wartet Khaled. Du zögerst. Der Kater hat vor Angst seine Box vollgekackt. Du zögerst. Ein Lautsprecher knackt. Du hörst deinen eigenen Namen. Du läufst los, ohne nachzudenken. Nochmal. Du läufst weiter, schneller jetzt. Du passierst die erste Kontrolle. Die zweite. Alle winken dich durch. Du steigst ins Flugzeug. Erst in diesem Moment wird dir bewusst, dass es keinen Weg zurück gibt. Sie wollen, dass du gehst. Du gehst. Du bist 26.
Verwackelte Aufnahmen. Ersetzen dein Gedächtnis. Werden zu deiner Erinnerung, die ab diesem Moment lückenhaft ist.
Stopp.
Einzelbilder. Die Männer von der Agentur verlassen das Boot. Sie haben einem Iraker gezeigt, wie man das Steuerrad hält. Ein Speedboat, längsseits. Sie hauen ab. Keine Minute später beginnt das Boot auseinanderzubrechen. Rucksäcke fliegen ins Wasser und verschwinden im blauen Nichts. Die Leute wollten ihre Sachen nicht loslassen, sagst du später. Der erste springt über Bord. Und verschwindet. Ein Rettungsring! Schnell!
Deine Kamera geht unter. Du gehst unter. Der Boden versinkt buchstäblich unter deinen Füßen. Schreie. Trillerpfeifen. Jemand hält ein Mobiltelefon in einer Plastikfolie hoch. Es klingelt. Die Tasten lassen sich nicht bedienen. Der blaue Himmel. Die Sonne scheint.
Es klingelt.
Es klingelt.
Das Wasser hatte 6 Grad, sagst du später. Es sieht wärmer aus. Hier unten ist das Blau eher ein verwaschenes Grün, das im Kontrast zu den steilen Farben steht, die wir mit nach unten gebracht haben. Wir sind jetzt verschmolzen, du und ich, in der Aufnahme deiner Kamera, die nicht ausgeht und gnadenlos weiterfilmt. Das Orange der Rettungsweste, die sich immer wieder knarzend ins Bild drängt, wenn dein rechter Arm den Rettungsring umklammert, weil der linke nicht mehr kann. Deine gräulich-weiße Hand, wie tot, an weggeworfenes Plastik erinnernd.
Eine rote Zigarettenschachtel schwebt vorbei.
Ein blauer Schokoriegel.
Füße in bunten Sneakers.
Beine in Jeans.
Kleine Füße in weißen Turnschuhen.
Schmetterlinge auf einer dunkelblauen Bluse.
Auftauchen. Schreie. Pfiffe. Grelles Sonnenlicht. Bitte. Ich will das nicht.
Lass uns wieder.
Abtauchen.
Ich erkenne euch alle wieder. Die bunten Sneakers. Jeans. Schmetterlinge auf der Bluse. Eine Hand mit Ringen. Wir schweben im Weltall. Wir alle zusammen führen einen bizarren Tanz auf, einen Tanz mit dem Tod. Alle Verbindungen gekappt. Driften wir durch die Schwerelosigkeit.
Dein Reisebegleiter ist über sich hinausgewachsen, sagst du später. Er hat nicht zugelassen, dass ihr aufgebt. Er hat geredet, gehalten, getröstet, er hat dich angeschrien als du nicht mehr um dein Leben kämpfen wolltest. Bis er selbst kein Gefühl mehr in den Beinen hatte.
Du hast eine andere Wahrheit erlebt, sagst du später.
Du erinnerst dich an das Baby, das in den Armen seiner Mutter gestorben ist.
Du erinnerst dich nicht an den Vater und seine Tochter, mit denen ihr euren Rettungsring geteilt habt.
Du erinnerst dich daran, dass du den Rettungsring loslassen und zur Küste schwimmen wolltest.
Du erinnerst dich daran, dass du nur noch loslassen wolltest.
Versinken.
Im Nichts.
I’ve had enough.
Boote. Ein Hubschrauber. Wirbelt das Wasser auf. Das macht dich wütend. Und dein Verstand setzt wieder ein. Warum dauert es so lange? Warum lasst ihr uns hier sterben?
Du verweigerst dich der Erinnerung an eine Rettung, sagst du später. Du verweigerst dich sogar der Erinnerung deines Reisebegleiters, der die Geschichte zu eurer Heldenreise machen will. Wir sind nur Zahlen, so werden wir hier gesehen, sagst du. Wir sind zwei, wir sind 70, 300, 5000. 5000 individuelle Wahrheiten, vor uns, nach uns, Tag für Tag. Unter Wasser, sagst du später, gibt es kein „wir“.
Okay.
Ich frage dich nach deiner ersten Erinnerung an Europa.
Du stehst an Deck eines Schiffes. Du bist gerettet worden nach fast fünf Stunden im Wasser. Andere sind gestorben. Du musst kotzen. Eine Hand reißt deinen Kopf an den Haaren zurück und drückt dich zur Reling. Ein großer Mann, er hat eine Glatze, er spricht nicht mit dir. Nur diese eine brutale Geste.
Nicht auf meinem Boot.
28. Oktober 2015, Patrouille Nr. 68, Frontex Joint Operation „Poseidon“.
Aim: to implement coordinated operational activities at the external sea borders of the Eastern Mediterranean Region in order to control irregular migration flows towards the territory of the Member States of EU and to tackle cross-border crime.
Participating Country: Austria, Belgium, Bulgaria, Croatia, Czech Republic, Cyprus, Denmark, Estonia, Finland, France, Germany, Iceland, Italia, Latvia, Lithuania, Malta, The Netherlands, Norway, Poland, Portugal, Romania, Slovakia, Slovenia, Spain, Sweden, United Kingdom/Albania, Ukraine
Budget: € 19,960,291.22
Realisation: From 2015-02-01 to 2015-12-27
Griechische Mythologie, rekapituliert: Der Meeresgott Poseidon, nach feministischer Lesart, vergewaltigt die schöne Medusa im Tempel der Göttin Athene. Diese verwandelt Medusa daraufhin in ein Monster mit Schlangenhaaren. Ihr Blick lässt diejenigen zu Stein werden, die es wagen, sie anzusehen.
Du bist 28. Du trägst wieder Locken. Du schläfst lange. Damals im Dorf bist du immer früh aufgestanden, du liebst die Morgen, wenn das Haus langsam zum Leben erwacht. Heute schläfst du lange, zögerst das Aufwachen hinaus. Wann immer es geht, träumst du dich in deine Kindheit zurück. Doch dieses Mal geschieht etwas anderes mit dir.
Du träumst.
Du liegst auf dem Rücken im Wasser, unter der Oberfläche. Das Meer ist purpurfarben. Du kannst das Sonnenlicht sehen, wie es hell ins Wasser scheint. Du fühlst das purpurne Wasser, das deinen Körper umgibt, mit jeder Pore. Du bist allein. Du hast keine Angst mehr.
Verwandlung.
Europa. Wir laufen über eine Insel. Das hohe Ufer, sagst du, erinnert dich an Lesbos. In der Nacht zuvor hast du deine Aufnahmen zum ersten Mal mit Fremden geteilt. Du hast zum ersten Mal geweint. Keine Trauer, sondern Entsetzen darüber, was dir geschehen ist, was dir jeden Tag von Neuem geschieht und für immer geschehen wird. Deine Wut erglüht in diesem Anblick deiner selbst.
Unteilbar.
Kein „wir“.
Doch ein Teil von dir, ein Teil von mir und allen anderen, die das je sehen werden, bleibt dort zurück. Unter Wasser, gefangen in unfassbarer Schönheit des Schrecklichen. Du bist die Medusa. Wen deine Bilder berühren, der erstarrt zu Stein.
Poseidon ist ein alter Mann, seine Tage sind gezählt.
Du bist 28.
Du wartest.
© Merle Kröger mit Amel Alzakout 2017
Der Text basiert auf mehreren, nicht aufgezeichneten Gesprächen in Istanbul und Berlin, die wir auf langen Wanderungen durch die Stadt geführt haben.
Zitat: Frontex Archive of Operations