Zur Harvard-Peabody-Expedition nach Niederländisch-Neuguinea, 1961
Die Harvard-Peabody-Expedition nach Niederländisch-Neuguinea war eine groß angelegte anthropologische Expedition von US-amerikanischen Anthropologen und Künstlern im Jahr 1961. Das 3-jährige Unternehmen war in großen Teilen durch private Spenden finanziert – unter anderem von der Rockefeller-Familie – und wurde von der niederländischen Regierung unterstützt. Ihr Ziel waren die im Baliem-Tal lebenden Hubala (auch als Dani bekannt), bei denen sich die Forschergruppe von April bis August 1961 aufhielt – zwei Jahre bevor das Gebiet von den Niederlanden an Indonesien übergeben wurde.
Die Harvard-Peabody-Expedition ist nicht nur deshalb beispielhaft, weil sie einen großen Einfluss auf die Entwicklung und Ausrichtung der US-amerikanischen Anthropologie hatte, sondern auch, weil sie den US-amerikanischen Blick auf die Papua und die US-Außenpolitik in der Region – durch ihren Einfluss auf Akademiker*innen und Öffentlichkeit in den USA – bis heute prägt. Dies beruht auf zwei Faktoren: Erstens erprobte die Harvard-Peabody-Expedition, obwohl sie auf einem Modus der Wissensproduktion fußte, der bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts populär geworden war, eine in den 1960er-Jahren neue Ausprägung anthropologischer Recherche, in der audiovisuelle Technologie intensiv zum Einsatz kam. Dies ist der Grund, warum die Harvard-Peabody-Expedition zu einer der best-dokumentierten Studien einer Region der Welt wurde und auch außerhalb akademischer Zirkel ein großes Publikum erreichte.
Die Expedition war die Grundlage von Robert Gardners abendfüllendem Film DEAD BIRDS (1964), von Peter Matthiessens Sachbuch „Under the Mountain Wall: A Chronicle of Two Seasons in Stone Age New Guinea“ (1962), zweier Dissertationen von Karl G. Heider und Jan Broekhuijse sowie zweier Fotobüchern: „Gardens of War“ (1968), herausgegeben von Robert Gardner und Karl G. Heider, und Michael Rockefellers „New Guinea Photographs“ (2006). Zudem entstand ein Archiv aus 37 Stunden Tonaufnahmen, die Michael Rockefeller von der Welt der Hubala machte.
Zweitens verschwand Michael Rockefeller (1938–1961) unter ungeklärten Umständen drei Monate nach der Expedition in Neuguinea. Michael Rockefeller war das jüngste Kind von Nelson Aldrich Rockefeller, seinerseits Mitglied der Rockefeller-Familie in vierter Generation. Der junge Rockefeller schloss sich der Expedition als Fotograf und Tonmann an. Nach dem Aufenthalt im Baliem-Tal machte er sich auf zu den Asmat im südlichen Teil Neuguineas, die er studieren und deren Artefakte er sammeln wollte. Dort verschwand er im Jahr 1961. Sein Verschwinden ist Gegenstand verschiedener populärer Erzählungen (Machlin 2001, Hoffman 2014 und Morgan 2014). Sie ist in anthropologische Mythen über die Forschung im Feld eingegangen und Teil unzähliger Berichte über den Kannibalismus der Papua. Wurde er, wie eine Geschichte es will, von den Asmat getötet und verspeist?
Sowohl die Harvard-Peabody-Expedition, als auch das Verschwinden des jungen Rockefellers ereigneten sich in einem Gebiet, das in einen monumentalen politischen Disput verwickelt war, der die Geschichte und das Schicksal Neuguineas bestimmen sollte. Seit 1949 liefen internationale Verhandlungen über den politischen Status Neuguineas. 1962 unterschrieben die Vereinten Nationen das New Yorker Abkommen, laut dem die Niederländer gezwungen wurden, Niederländisch-Neuguinea vorübergehend der United Nations Temporary Executive Authority (UNTEA) zu übergeben. UNTEA übergab die administrativen Aufgaben am 1. Mai 1963 an Indonesien. Die Übergabe war Teil einer größeren Welle der Dekolonisierung in der Nachkriegszeit, die in diesem Zeitraum in den zerfallenden europäischen Imperien stattfand. Als Teil des Abkommens führte die indonesische Regierung 1969 den „Act of Free Choice“ durch, eine Wahl, in der alle erwachsenen Papua ihre Stimme abgeben und ihre politische Zukunft bestimmen sollten: Wollten sie ein Teil Indonesiens bleiben oder die Unabhängigkeit als souveräner Staat? Doch anstatt ein freies und gerechtes Referendum zu organisieren verstieß die Regierung gegen die im Abkommen ausgeführten Regeln. Sie wählte eine handverlesene Gruppe von circa 1.025 Führern der Papua aus, schüchterte diese ein und erzwang so ihre Stimmen für einen Verbleib in Indonesien (Lagerberg 1979, Osbourne 1985, Drooglever 2009, Kirksey 2012). Trotz dieses kontroversen Vorgangs wurde der Status der Region als Teil Indonesiens von der internationalen Gemeinschaft anerkannt. Seither kämpfen die indigenen Papua gegen die von ihnen als Besetzung ihres Gebietes angesehene Präsenz Indonesiens.
Die Anfänge von EXPEDITION CONTENT
Die Rockefeller-Familie übergab das Tonarchiv mit Michael Rockefellers Aufnahmen aus Westpapua dem Harvard Peabody Museum of Archaeology and Ethnography, welches in der Folge im Archiv für Traditionelle Musik der Indiana University digitalisiert wurde. Es ist davon auszugehen, dass die Aufnahmen vornehmlich für die Produktion des Films DEAD BIRDS von Robert Gardner entstanden, der im Bereich des ethnografischen Films als Meilenstein gilt. Die Aufnahmen umfassen eine große Bandbreite von Aspekten der Hubula-Kultur, darunter alltägliche Aktivitäten, Zeremonien, Kriegsführung sowie Musik und andere Aufführungen von historischer und ästhetischer Bedeutung. Die Materialien selbst bestehen aus 123 Tonbändern, bzw. rund 37 Stunden Tonaufnahmen, die Michael Rockefeller zwischen April und August 1961 aufzeichnete. EXPEDITION CONTENT entstand im Zuge eines größeren Projekts der Aufarbeitung des Archivs, das den Hubula in Westpapua zurückgegeben wird.
Bibliografie
Broekhuijse, Jan. 1967. De Wiligiman-Dani: een cultureel-anthropologische studie over religie en oorlogvoering in de Baliem-vallei. Diss. Utrecht. Tilburg: Gianotten.
Bubriski, Kevin, Michael Rockefeller und Robert Gardner. 2006. Michael Rockefeller: New Guinea Photographs, 1961. Cambridge, MA: Peabody Museum.
Drooglever, Pieter. 2009. An Act of Free Choice: Decolonisation and the Right to Self-Determination in West Papua. London: Oneworld Publications.
Gardner, Robert. 1964. Dead Birds. Film. Cambridge, MA: Documentary Educational Resources.
Gardner, Robert und Karl G. Heider. Introd. by Margaret Mead. 1968. Gardens of war: Life and Death in the New Guinea Stone Age. New York: Random House.
Heider, Karl G. 1970. The Dugum Dani: A Papuan culture in the highlands of West New Guinea. Chicago: Aldine Pub. Co.
Heider, Karl G. 1979. Grand Valley Dani: Peaceful warriors. New York: Holt, Rinehart, and Winston.
Heston, Fraser C. 2011. The Search for Michael Rockefeller. Regie: Fraser C. Heston. Film.
Hoffman, Carl. 2015. Savage Harvest: A Tale of Cannibals, Colonialism, and Michael Rockefeller's Tragic Quest. New York: William Morrow Paperbacks.
Kirsch, Stuart. 2002. „Rumour and Other Narratives of Political Violence in West Papua.“ Critique of Anthropology 22(1):53–79.
Kirsch, Stuart. 2010. „Ethnographic Representation and the Politics of Violence in West Papua.“ Critique of Anthropology 30(1):3–22.
Kirksey, Eben. 2012. Freedom in Entangled Worlds. West Papua and the Architecture of Global Power. Durham: Duke University Press.
Lagerberg, Kees.1979. West Irian and Jakarta Imperialism. London: Palgrave.
Machlin, Milt. 2001. The Search for Michael Rockefeller. New York: Common Reader.
Matthiessen, Peter. 1962. Under the Mountain Wall: A Chronicle of Two Seasons in Stone Age New Guinea. London: Collins Harvill.
Morgan, Mary Rockefeller. 2014. When Grief Calls Forth the Healing: A Memoir of Losing A Twin. New York: Open Road Media.
Osborne, Robin. 1985. Indonesia’s Secret War: The Guerilla Struggle in Irian Jaya. Boston: Allen & Unwin.
Rockefeller, Michael Clark and Adrian A. Gerbrands (ed.). 1967. The Asmat of New Guinea: The Journal of Michael Clark Rockefeller (The Michael C. Rockefeller Expeditions 1961). New York: Museum of Primitive Art.
Rutherford, Danilyn. 2003. Raiding the Land of the Foreigners. New Jersey: Princeton University Press.
Rutherford, Danilyn. 2012. Laughing at Leviathan: Sovereignty and Audience in West Papua. Chicago: Chicago University Press.