Artist’s Note
An wen denkst du zuerst in langen, dunklen Nächten, wenn du nicht schlafen kannst? An einen ehemaligen Liebhaber oder eine ehemalige Liebhaberin? Deinen aktuellen Partner beziehungsweise deine aktuelle Partnerin? Einen Freund oder eine Freundin, der oder die dich verletzt hat? Oder vielleicht an ein Familienmitglied?
Familie 1
Deine Existenz ist das Ergebnis einer Kette von zufälligen Begegnungen in deiner Familiengeschichte und in gewisser Weise ist sie auch ein Ende der Menschheitsgeschichte, zu der deine Familiengeschichte gehört.
Das Wort Familie bringt unterschiedliche Assoziationen hervor. Es kann sich auf traditionelle oder patriarchalische Familienmodelle bis hin zu nationalistischen Ideologien beziehen, aber auf der anderen Seite beschreiben wir auch Beziehungen als „wie eine Familie“, die durch Verbindungen auf Zeit entstehen, zum Beispiel in einer Filmcrew.
Der zeitgenössische Philosoph Hiroki Azuma identifiziert in „Genron 0: A Philosophy of the Tourist“ (Tokyo: Genron, 2017) drei Hauptcharakteristika der Familie:
(1) Zwangsmäßigkeit (es ist nicht leicht in eine Familie aufgenommen zu werden oder sie zu verlassen)
(2) Zufall (eine Familie ist eine Anhäufung von Zufällen: Kinder können sich ihre Eltern nicht aussuchen, genauso wenig wie sich Eltern ihre Kinder aussuchen können)
(3) Erweiterungsfähigkeit (eine Familie kann auf jeden ausgedehnt werden, der unter dem gleichen Dach wohnt und das gleiche Essen isst, und ist nicht auf Blutsverwandte beschränkt)
In anderen Worten, eine Familie kann als eine Gruppe definiert werden, die starke Bindungen hat, aber durch Zufall entstanden ist und gleichzeitig erweiterbar ist.
„Da es möglich ist, dass Familienzugehörigkeit ausschließlich auf persönlicher Zuneigung beruht, kann sie sich mitunter sogar über die Grenzen zwischen Spezies hinaus erstrecken. Dies ist eine durch Empathie verursachte ,Geburt‘ in die ,falsche‘ Familie.“ („Family“, in: Genron 0, S. 222)
Wir sagen zum Beispiel oft, unsere Haustiere seien unsere Familienmitglieder. In diesem Sinne ermöglicht die Erweiterbarkeit des Familienbegriffs eine Empathie, die sogar artenübergreifende Grenzen überschreitet. Das heißt, es könnte genügen, einfach Zeit mit anderen Menschen in einer vorübergehenden Gemeinschaftssituation zu verbringen, um eine Bindung zu ihnen aufzubauen. Dies könnte eine alternative Möglichkeit sein, Solidarität zu erzeugen.
Wurzeln
In Japan werden Menschen mit einem Elternteil, das aus einem anderen Land kommt, üblicherweise als „hāfu” bezeichnet (vom englischen „half“, benutzt anstelle von „Halb-Japaner*in“, „Halb-Brasilianer*in“ etc.) und als „Ausländer*innen“ angesehen. Selbst diejenigen, die japanische Staatsbürger*innen sind oder in Japan aufgewachsen sind, können aufgrund der kleinsten Merkmale in ihren Gesichtszügen als „Ausländer*innen“ bezeichnet werden. Mit anderen Worten: Sie können zu Objekten der Diskriminierung werden. Diese Sensibilität fühlt sich wahrscheinlich für diejenigen, die in einer Stadt wie Paris, London oder Los Angeles gelebt haben, seltsam an. Binärcodes wie der oben genannte zwischen „Japaner*in“ und „Ausländer*in“ machen nicht wirklich Sinn an Orten, wo viele Menschen mit den unterschiedlichsten Hintergründen zusammenleben.
Die Protagonist*innen dieses Projekts haben ihre Wurzeln auf der koreanischen Halbinsel, in Bolivien, Bangladesch und Brasilien. Da sie entweder in Japan geboren wurden oder schon in jungen Jahren hierher kamen, sind sie alle japanische Muttersprachler*innen und wuchsen in einem japanischen Kulturkreis auf.
In Japan existiert die rassistische Vorstellung, dass die Japaner*innen eine homogene Gesellschaft sind. Doch selbst in diesem kleinen Inselstaat gibt es in Kultur und Küche Unterschiede zwischen den Regionen. Wenn wir an die Menschen in Okinawa oder an die Ainu in Hokkaido denken, dann wird die Vorstellung einer homogenen Gesellschaft offensichtlich als Lüge entlarvt. Die Recherche eines Beraters dieses Projekts, Lawrence Yoshitaka Shimoji, macht deutlich, dass Japaner*innen mit ausländischen Wurzeln zwar bereits in der japanischen Gesellschaft existierten und nach dem Zweiten Weltkrieg die japanische Staatsbürgerschaft zugesprochen bekamen, aber aufgrund ihrer Gesichtszüge als „Ausländer*innen“ definiert und unsichtbar gemacht wurden. Obwohl Themen um Migration in Japan in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit erhalten, müssen wir uns wirklich fragen, warum wir immer noch kein differenzierteres Bild von Japaner*innen haben.
Sozial engagierte abstrakte Malerei
Die abstrakte Malerei stellt sich ihr ideales Publikum als universelles menschliches Subjekt vor, ausgestattet mit der visuellen Fähigkeit zur Wahrnehmung von Farbe und Form. Ein Subjekt, das jenseits von Zeit, Ort und rassistischen Vorstellungen existiert. Natürlich kann ich nicht sagen, ob dies der tatsächliche Grund dafür ist, aber als ich in anarchistischen Cafés, unabhängigen Buchläden und Hilfszentren für Geflüchtete in Griechenland recherchierte, fiel mir auf, dass dort immer abstrakte Malerei an den Wänden hing.
Da ich die Protagonist*innen meines Films diesmal abstrakte Gemälde anfertigen ließ, habe ich die Kuratorin Mika Kuraya gebeten, die eine Ausstellung über Malerei und das Tōhoku-Erdbeben 2011 kuratiert hatte, darüber nachzudenken, wie Maler*innen und die Praxis des Malens selbst mit soziopolitischer Geschichte in Verbindung gebracht werden können. Weiter bat ich den Maler Ken Sasaki, einen Freund von mir, mir beim Mal-Workshop zu helfen. Wir drei sind 2012, ein Jahr nach dem Erdbeben, gemeinsam in das Katastrophengebiet gereist.
Man neigt dazu, die Malpraxis als einen von der Gesellschaft isolierten Akt zu betrachten, der von einsamen, in ihr Atelier zurückgezogenen Maler*innen ausgeführt wird. Aber erinnern wir uns zum Beispiel an die Maler*innen, die von den Nazis ab den 1930er-Jahren als „entartete Künstler*innen“ bezeichnet wurden und flüchten mussten. Viele von ihnen flüchteten in die Vereinigten Staaten, wo sie neue Kunstszenen schufen. Oder zum Beispiel Laura Owens, die in Los Angeles einen Raum zur Ausstellung ihrer Werke als einen Ort für ihre lokale Gemeinschaft eröffnet hat und ihre Kunstpraxis als eine umfassende Aktivität ansieht. (Es war eine Schande, dass ihr Raum, 356 Mission, von Gentrifizierungsgegner*innen kritisiert und schließlich geschlossen wurde.) Somit sind Künstler*innen auch in gesellschaftlichen Belangen engagiert.
Familie 2
Diesmal erforsche ich die persönliche Geschichte der Protagonist*innen durch die Linse der „Familie“. Die vier Protagonist*innen sind sich völlig fremd, ohne das Projekt hätten sie sich nie getroffen. Sie haben alle einen komplexen kulturellen Hintergrund beeinflusst durch die Einwanderungspolitik des ehemaligen japanischen „Imperiums“, die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs oder resultierend aus den globalen Bevölkerungsströmen.
Ihre persönlichen, ebenso wie ihre Familiengeschichten hallen in der Black Box des Theaters wider, während die abstrakten Gemälde, die sie zusammen im White Cube des Malateliers produziert haben, eine metaphorische Mischung ihrer Hintergründe und Gedanken darstellen. Alltagsszenen, die in einem typischen Vorstadthaus gedreht wurden, verbinden gespielte mit spontanen Äußerungen, virtuelle Familienbeziehungen mit realen Familiengeschichten sowie die Gespräche und Handlungen der vier Protagonist*innen mit Gemälden, in denen mehrere Formen den gleichen Raum einnehmen. Wenn wir beobachten, wie sich das Leben dieser „zufälligen Familie“ zwischen Fiktion und Realität entfaltet, wird es uns vielleicht dazu veranlassen, uns eine grundlegende Frage zu stellen: „Wer bin ich?“
Koki Tanaka
Tokio und Kyoto, Juni 2019