Der erste glückliche Augenblick
Als in Argentinien lebender Uruguayer reise ich häufig in meine Heimat, oft mit der Fähre, was drei Stunden dauert. Es ist eine Fahrt zwischen zwei parallel existierenden Welten: Was die Menschen in Buenos Aires über mich wissen, ist in Montevideo nicht bekannt und umgekehrt. Diese Situation gab mir zumindest am Anfang das Gefühl, seltsam frei und stark zu sein, weil ich nirgendwo hingehöre.
Das Schiff bildete einen Zwischenraum zwischen diesen beiden möglichen Welten: eine Grenze zwischen zwei Orten, die sich nie berühren; aber ebenso die Grenze zwischen zahllosen Orten, die sich berühren könnten. Es ist eine fantastische, nicht definierte Zone. Ich hatte entdeckt, dass das Schiff tatsächlich aus einem System geheimer Türen bestand, die zu verschiedenen Räumen führten, welche gleichzeitig weit voneinander entfernt und benachbart waren.
Der Film fängt diesen glücklichen ersten Augenblick ein, das Auftauchen der Tür als fantastischer Zugang zu einer möglichen anderen Realität, noch bevor diese Realität selbst bestimmt werden kann; diese kurzzeitige Möglichkeit, nirgendwo hinzugehören, die belegt, dass Orte sich unbegrenzt miteinander verbinden können. Die Figuren in dem Film lassen sich von dieser Möglichkeit verführen und geben ihre Lebensweise zugunsten der Erforschung des Unbekannten auf. (Alex Piperno)
Gespräch mit Alex Piperno: „Die Welt würde sich wie eine Socke nach außen wenden“
Wie entstand die Idee zu dem Film?
Zuerst war da die Idee, dass das Schiff, das Montevideo und Buenos Aires (wo ich lebe) innerhalb von drei Stunden verbindet, auf fantastische Weise unendliche Welten miteinander verbinden könnte. Einmal sah ich eine Szene an Bord, die ich seltsam fand: Ein Mann und eine Frau standen an den entgegen gesetzten Enden des Schiffes gleichzeitig auf und verschwanden im Boden des Fahrgastraums. Ich assoziierte das Bild mit dem Einsatz eines Geheimagenten, und das brachte mich dazu, eine fantastische Polizeigeschichte zu schreiben, die ich später wieder verwarf, die aber in dem Geheimnis aufgehoben ist, das der Fensterjunge hütet. In dieser Polizeigeschichte spielte auch der illegale Handel von chinesischen Bauern eine Rolle, was schließlich zu dem fantastischen Plot mit dem Schuppen auf den Philippinen führte.
Wenn Montevideo in Relation zum Schiff ein ebenso naher wie entfernter Ort war, so bedeutete die Verbindung mit einem Gebiet am anderen Ende der Welt die Radikalisierung dieses Verhältnisses. Die an diesen nahen und entfernten Orten Lebenden sollten sich treffen, und die Welt würde sich wie eine Socke nach außen wenden. Der Film behandelt diese fantastischen Elemente nicht als etwas Außergewöhnliches, sondern integriert sie rasch in die organische Realität des Filmuniversums, so wie es auch die Filmfiguren tun. Denn tatsächlich bleibt einem nichts anderes übrig, als das Außergewöhnliche in den Alltag zu integrieren, weil es letztlich ja zum täglichen Leben dazugehört. Einiges davon geschieht im Film, obwohl die Auswirkungen am Ende verheerend sind.
Können Sie uns etwas zu der Mischung aus fantastischen Elementen und einer realistischen Herangehensweise sagen?
Ich glaube, dass die imaginative Kraft des Kinos viel mit seiner Fähigkeit zu tun hat, aufschlussreiche und mehrdeutige Geschehnisse zu konstruieren, die nicht in eine verbale Sprache übersetzt oder auf den gesunden Menschenverstand reduziert werden können. Die Beschränkung des Kinos auf eine realistische Kopie des gewöhnlichen Lebens ist eine etwas frustrierende Erfahrung, die meiner Meinung nach häufig eher das Resultat einer bequemen Haltung mancher Filmemacher*innen als der eigentlichen Natur des Mediums ist. Eine Verwirrung des gesunden Menschenverstands zu erzeugen ist zentral für jede künstlerische Disziplin, aber es ist auch wesentlich für Gespräche, die man gerne führt, und es ist eine Möglichkeit, die Faszination für die Dinge, die uns umgeben, zu zeigen. Meiner Meinung nach feiert das Kino die Möglichkeiten der Sprache, und wenn es stimmt, dass die Poesie die Entdeckung von Beziehungen zwischen bis dahin unzusammenhängenden Elementen ist, dann sind fantastische Elemente die Mittel, die dem Kino zur Verfügung stehen, um Zugang zu poetischen Realitäten zu erhalten.
Warum dieser Titel?
Der Titel ist die Neufassung eines Verses aus einem Gedicht, das ich geschrieben habe. „Chico ventana“ (Fensterjunge) hat etwas vom „Migraine boy“ (Migränejunge), der MTV-Cartoon-Serie der 1990er-Jahre. Der Titel klingt wie eine schlechte Übersetzung aus dem Englischen in nüchternes Spanisch, und er hat etwas von diese Irritation, die mir gefällt. Indem man den Film so nennt, reduziert man die Figur auf ein Attribut, nämlich auf den Job als Fensterputzer auf dem Schiff. Aber der Filmtitel verweist zugleich auf seinen Drang, durch die Fenster zu schauen, überall einzudringen und sich ungehindert zu bewegen, auch wenn das zu seiner Vernichtung führt. Als die Katastrophe eintritt, weil auf dem Schiff die Welten aufeinander treffen, könnte man meinen, der Fensterjunge drehe weiter seine Runden unter Wasser – ‚als hätte er ein U-Boot’–, auf der Suche nach neuen Türen, die zu neuen Orten führen.
Wie haben Sie die verschiedenen Drehorte ausgewählt?
Die Auswahl der Drehorte auf dem Schiff und in Montevideo war für mich von Anfang an klar, denn irgendwann haben sie sich von meinen Erfahrungen als Neuankömmling in Buenos Aires und von meinen Besuchen in Uruguay abgekoppelt. Die Wahl der Philippinen resultierte aus dem Schreibprozess und wurde schließlich zu einer Produktionsentscheidung.
Warum haben Sie sich für eine Besetzung mit Laiendarstellern entschieden?
Als Zuschauer fällt es mir schwer, das Bild eines Schauspielers nicht mit seiner öffentlichen Person und den Bildern aus früheren Produktionen zu verbinden. Gleichzeitig glaube ich, dass die Schauspielausbildung häufig einen Verlust an Unschuld im Umgang mit dem Körper mit sich bringt, was dazu führt, dass ich am Ende oft berufliche Routine und keinen wahrhaftigen Moment vor mir sehe. Bei einem Laiendarsteller registriert die Kamera absichtslose Mimik und Bewegungen, und das ist etwas, was mich sehr fasziniert; ich glaube, es nutzt meinem kreativen Prozess. Dennoch konnte ich während der Dreharbeiten beobachten, wie Daniel, Inés und Noli zu echten Schauspieler*innen wurden, da sie wie alle ihre Vorstellungen über Regie, Bildeinstellungen und Inszenierung einbrachten. Die Frage ist also komplexer, und ich glaube, ich muss die Beziehung zwischen diesen Kategorien neu überdenken.
(Interview: La pobladora cine)