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64 Min. Spanisch.

Mehr als 50 Jahre sind vergangen, seit Raúl Ruiz – zeitlebens gern gesehener Gast im Berlinale Forum – in Santiago de Chile an seinem ersten Spielfilm arbeitete. Fertiggestellt hat er ihn nie. 1973 zwang ihn der Militärputsch ins Exil, die Filmspulen tauchten viel später in einem Kino auf. Valeria Sarmiento, Regisseurin und Ruiz’ Witwe, nahm sich des Materials an. Gehörlose halfen durch Lippenlesen, die Dialoge zu rekonstruieren. Im Mittelpunkt steht Herr Iriarte, den der Tod seiner Frau aus der Bahn wirft. Nachts sucht sie ihn heim, ihre Perücken wuseln auf dem Parkett herum, und irgendwann hat auch der Teufel seinen Auftritt in diesem verspielt-verspiegelten Arrangement. El tango del viudo y su espejo deformante bewegt sich in der Zeit hin und her, als wäre das Gestern morgen und das Heute 50 Jahre her: ein idealer Eröffnungsfilm für das Jubiläumsjahr des Berlinale Forums. (cn)

Raúl Ruiz wurde 1941 in Puerto Montt (Chile) geboren. Er studierte Jura und Theologie in Argentinien. Parallel verfasste Ruiz zahlreiche Theaterstücke und Drehbücher fürs Fernsehen. Nach dem Putsch in Chile 1973 ging er nach Frankreich, wo er die meisten seiner mehr als 100 Kino- und Fernsehfilme drehte. Mit seinen Filmen war Ruiz mehrfach im Forum sowie im Wettbewerb der Berlinale vertreten. Er starb 2011 in Paris.

Valeria Sarmiento wurde 1948 in Valparaíso (Chile) geboren. Sie studierte an der School of Film and Television der Universidad de Chile in Santiago de Chile. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Raúl Ruiz arbeitete Sarmiento an zahlreichen künstlerischen Projekten, außerdem war sie für den Schnitt vieler seiner Filme verantwortlich. Darüber hinaus realisierte sie mehr als 20 Dokumentar- und Spielfilme, einige in ihrem Heimatland Chile. Valeria Sarmiento lebt in Paris.

Raúl Ruiz über den Film

„In der Geschichte geht es um einen Mann, dessen Ehefrau Selbstmord begangen hat und ihm anschließend als Geist erscheint. Dieser Geist folgt ihm an jeden Ort, unter Betten, unter Tische ... Nach zahlreichen dieser Erscheinungen beginnt der Mann wie in einer Spirale, seiner Frau zu ähneln und immer femininer zu werden, und wir erkennen, dass er niemals wirklich verheiratet war und in Wirklichkeit in einem schizophrenen Spiel eine doppelte Persönlichkeit entwickelt.“ (Raúl Ruiz)

Der Dialog geht weiter

Seit Raúls Tod im August 2011 träume ich unentwegt von ihm. Wann immer ich die Augen schließe, achte ich aufmerksam auf Zeichen einer parallelen Lebensform, eines Lebens, in dem Raúl und ich immer noch zusammen sind, in dem es manchmal zu Streit und Auseinandersetzungen kommt und wir uns als Freunde und Gefährten immer noch gut verstehen, gemeinsame Spaziergänge machen, zusammen Musik hören, kochen, aus dem Fenster blicken und vor allem über Gott und die Welt reden. Und es stimmt: Nach Raúls Tod habe ich meine Beziehung zu ihm in [meinen] Träumen fortgeführt. Wann immer ich mich in die unzähligen Notizbücher, Tagebücher und Theater-, Oper- und Filmprojekte vertiefe, die unvollendet oder als frühe Gesten seiner Schaffenskraft geblieben sind, verfolgt mich dieser Dialog, den ich weiterhin mit ihm führe, bis in den Schlaf. Im Falle von EL TANGO DEL VIUDO entdecke ich in den Räumen des Hauses, in dem er gemeinsam mit seinen Eltern, Olga and Don Ernesto, lebte, dieselben poetischen, philosophischen und kritischen Absichten wieder, die Raúls Arbeit prägen, nur in einer puren Form, wie bei einem neuen Spielzeug. Für mich ist die Vollendung seines ersten Spielfilms auch eine Möglichkeit, diesen Dialog zu materialisieren, der unmittelbar der Welt der Träume entspringt, in der wir Filme machen, als würden wir improvisierten Kochrezepten folgen, und in der wir mit Hilfe der uns zur Verfügung stehenden Mittel etwas erschaffen. Deshalb werden weder Raúl noch ich jemals mit dem Filmemachen aufhören. Im Puzzle seines Schaffens, das mehr als einhundertzwanzig Filme umfasst, wird EL TANGO DEL VIUDO Y SU ESPEJO DEFORMANTE ein grundlegendes Werk bilden. (Valeria Sarmiento)

Die Durchlässigkeit der Welt der Toten und der Lebenden

In den Jahren 2016 and 2017 erfuhren wir im Zuge unserer Recherchen und Nachbearbeitungen zu THE WANDERING SOAP OPERA – einem Film, bei dem Raúl Ruiz 1990 Regie führte und der unter Leitung der Filmemacherin Valeria Sarmiento vollendet wurde –, dass es Filmmaterial zu weiteren unvollendeten Projekten von Ruiz gab. Darunter befand sich auch ein Satz von 35-mm-Rollen seines ersten Spielfilms EL TANGO DEL VIUDO, im Jahre 1967 gedreht und in den Kellerräumen eines alten Kinos in Santiago de Chile eingelagert. In einem Zeitungsartikel aus dieser Zeit äußert sich Ruiz zu den Umständen, die es ihm unmöglich machten, die Audio-Postproduktion für diesen Film zu finanzieren: „Den Ton zu diesem Film muss die Zukunft bringen, für den Moment wird er tonlos verwahrt."
Dieser nun aus dem Keller befreite Film könnte für die Rettung von Raúl Ruiz‘ erstem Spielfilm stehen, den er im Alter von gerade einmal 27 Jahren drehte. Bei genauerer Betrachtung erkennen wir jedoch, dass diese erste Analyse unzureichend ist und wir es hier mit einem grundlegenden Werk zu tun haben, dessen Entstehungsprozess mehr als fünfzig Jahre lang (von 1967 bis 2019) gewissermaßen eingefroren war. Eine lange Zeit, um das ursprüngliche Filmmaterial vom Set in den Schnittraum zu bringen.

Die Rekonstruktion der Dialoge
Inzwischen wurde der Film unter der künstlerischen Leitung der Filmemacherin, Produzentin und Witwe von Ruiz, Valeria Sarmiento, in mehreren Schritten vollendet. Im Jahr 2018 übernahm eine Gruppe von Menschen, die von Geburt an stark schwerhörig und gleichzeitig Experten im Lesen von Gesichtsausdrücken, Lippen und Körpersprache sind, die Aufgabe, die Dialoge der Schauspieler auf der Leinwand zu entschlüsseln. Der Dramatiker und Drehbuchautor Omar Saavedra schuf eine angesichts der Komplexität des Werks ausgesprochen gelungene literarische Vorlage, mit deren Hilfe wir uns von dem Film entfernen und den richtigen Ton treffen konnten. Ruiz selbst bezeichnete EL TANGO DEL VIUDO als Experimentalfilm, der verschiedene komische Situationen des chilenischen Alltags mit Horror-Fantasy-Elementen verbindet und in dem ein verwitweter Lehrer vom Geist seiner Ehefrau heimgesucht wird.
Bereits im Schnittraum legten Valeria und ihr Team die Dialoge endgültig fest und erkannten dabei, dass die Figuren ihre Stadt während einer Phase bewohnen, in der sie den Eindruck eines aus der Zeit gefallenen Dorfes vermittelt, das in einem Zustand der Unterentwicklung verharrt. Dadurch entsteht eine Erzählatmosphäre, in der überraschenderweise auch einige charakteristische Elemente aus Ruiz‘ Filmen auftauchen, die er in diesem Film (seinem ersten Spielfilm) erprobte; zu nennen ist hier unter anderem die Durchlässigkeit zwischen der Welt der Lebenden und der Toten, in der Geister ganz beiläufig in der Wirklichkeit leben, als wären sie wie Menschen aus Fleisch und Blut. Darüber hinaus gibt es Figuren, die in einem Spiel der fortwährenden Persönlichkeitsspaltung zugleich eine und mehrere Personen darstellen. Einige Codes entstammen zudem dem magischen Denken der Mapuche und der Inselbewohner von Chiloé im Süden Chiles, die in Ruiz’ filmischem Universum häufig als Inspirationsquelle auftauchen.

Der Originalfilm und sein Abbild
Das wiederentdeckte Filmmaterial ist vollkommen zusammenhangslos und besteht aus kurzen, sich wiederholenden Fragmenten vorangegangener Szenen, die wie scharfkantige Teile keinerlei Verbindung zueinander aufweisen. Es mutet wie ein rätselhafter und dahinschwindender Alptraum voller spiegelverkehrter Bilder an, sowohl bei den Einzelaufnahmen als auch bei den umgekehrten Sequenzen. Darüber hinaus gibt es weitere Szenenfragmente, in denen neue Aufnahmen die bereits wiederholten Szenen aus einer anderen Perspektive zeigen. Valeria Sarmiento wollte eine Verbindung zwischen dem Konzept für diesen enigmatischen Film und den Zerrspiegeln herstellen, für die ihr Mann eine besondere Vorliebe hatte.
Sie erinnert sich lebhaft an einen handschriftlichen Eintrag in einem seiner Notizbücher, in dem sich Ruiz allgemein zu seiner Absicht äußerte, Filme mit einem spiralförmigen Aufbau zu drehen, diesen jedoch mit einem ‚erzählenden Spiegel‘ zu durchbrechen, durch den das Publikum gewissermaßen dazu gezwungen ist, bereits gesehene Szenen erneut zu durchleben. Damit wäre eine vollkommen andere sinnliche Erfahrung verbunden, die von einer neuen, formal, aber nicht inhaltlich redundanten Symbolkraft geprägt ist.
Dieser Text leistete einen maßgeblichen Beitrag zur Entschlüsselung der rätselhaften Filmaufnahmen und machte deutlich, dass EL TANGO DEL VIUDO in zwei Abschnitte unterteilt ist: Zum einen gibt es den Originalfilm und zweitens sein Abbild, in dem sich über ein neues erzählerisches Terrain neue sprachliche Ideen und neue Interpretationsmöglichkeiten eröffnen. Der Musiker und langjährige Mitarbeiter von Valeria und Raúl, Jorge Arriagada, war derart bezaubert von den ersten Schnittergebnissen zu EL TANGO DEL VIUDO, dass er eine Auswahl musikalischer Klangwelten schuf, deren Charakter von symphonisch bis minimalistisch reichte, um schließlich das Element zu finden, das die klangliche Identität des Films prägen sollte: eine Sonate für ein mit Handsägen und Theremin ausgestattetes Kammerorchester. (Poetastros)

Produktion Chamila Rodriguez, Galut Alarcón. Produktionsfirma POETASTROS (Santiago, Chile). Regie Raúl Ruiz, Valeria Sarmiento. Drehbuch Raúl Ruiz, Omar Saavedra Santis, Valeria Sarmiento. Kamera Diego Bonacina. Montage Galut Alarcón. Musik Jorge Arriagada. Sound Design Galut Alarcón. Production Design Raúl Ruiz. Casting Raúl Ruiz, Chamila Rodríguez Voices. Ausführende*r Produzent*in Chamila Rodríguez. Mit Ruben Sotoconil, Sergio Hernández, Claudia Paz, Chamila Rodríguez, Luis Alarcón, Néstor Cantillana, Shenda Román, Gabriela Arancibia, Delfina Guzmán, Marcela Golzio, Luis Vilches, Gabriel Urzua.

Filme

Raúl Ruiz: 1963: La maleta (20 min.). 1964: El regreso (40 Min.). 1968: Tres tristes tigres (100 Min.). 1972: La expropiación / The Expropriation / Die Enteignung (60 Min., Forum 1990). 1975: Diálogos de exiliados / Dialogues of Exiles (100 Min.). 1976: El cuerpo rapartido y el mondo al reves / Mensch verstreut und Welt verkehrt (67 Min., Forum 1984). 1979: L’hypothèse du tableau volé (66 Min.). 1981: O Território / The Territory (104 Min.). 1983: Berenice (105 Min., Forum 1984). 1984: La présence réelle (64 Min., Forum 1985), Manuel na ilhas das maravilhas / Manuel auf den Wunderinseln (152 Min., Forum 1985). 1985: Richard III (135 Min., Wettbewerb (Sondervorführung) 1986). 1986: Mémoire des apparences (100 Min., Forum 1987). 1992: L'oeil qui ment / Dark at Noon (100 Min.). 1994: Fado majeur et mineur (110 Min.). 1996: Trois vies et une seule mort / Three Lives and Only One Death / Drei Leben und ein Tod (123 Min.). 1997: Généalogies d’un crime / Genealogies of a Crime / Genealogien eines Verbrechens (114 Min.). 1999: Le temps retrouvé / Time Regained / Die wiedergefundene Zeit (162 Min.). 2003: Ce jour-là / That Day (105 Min.). 2006: Klimt (98 Min.). 2010: Mistérios de Lisboa / Mysteries of Lisbon / Die Geheimnisse von Lissabon (312 Min.).

Valeria Sarmiento: 1972: Un sueño como de colores, Poesía popular: La teoría y la práctica (20 Min.), Los minuteros (15 Min.). 1973: Nueva Canción Chilena (20 Min.). 1975: La dueña de casa (23 Min.). 1979: Le mal du pays (18 Min.), Gens de nulle part, gens de toutes parts (60 Min.). 1982: El hombre cuando es hombre / A Man When He Is a Man (66 Min.). 1984: Notre mariage (95 Min.). 1991: Amelia Lópes O'Neill (95 Min., Wettbewerb 1991). 1992: Latin Women Beat in California, El planeta de los niños / Planet of the Children (62 Min.). 1995: Elle (86 Min.). 1998: Carlos Fuentes: Un voyage dans le temps (45 Min.), L'inconnu de Strasbourg (100 min.). 1999: Mon premier french cancan (52 min.). 2002: Rosa la China (102 Min.). 2004: Au Louvre avec Miguel Barceló (25 Min.). 2008: Secretos / Secrets (85 Min.). 2012: Lines of Wellington / Lines of Wellington – Sturm über Portugal (151 Min.). 2014: Diario de mi residencia en Chile: María Graham / Maria Graham: Diary of a Residence in Chile (118 Min.). 2018: O Caderno Negro / The Black Book (113 Min.).

Foto: © POETASTROS

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