Raúl Ruiz über den Film
„In der Geschichte geht es um einen Mann, dessen Ehefrau Selbstmord begangen hat und ihm anschließend als Geist erscheint. Dieser Geist folgt ihm an jeden Ort, unter Betten, unter Tische ... Nach zahlreichen dieser Erscheinungen beginnt der Mann wie in einer Spirale, seiner Frau zu ähneln und immer femininer zu werden, und wir erkennen, dass er niemals wirklich verheiratet war und in Wirklichkeit in einem schizophrenen Spiel eine doppelte Persönlichkeit entwickelt.“ (Raúl Ruiz)
Der Dialog geht weiter
Seit Raúls Tod im August 2011 träume ich unentwegt von ihm. Wann immer ich die Augen schließe, achte ich aufmerksam auf Zeichen einer parallelen Lebensform, eines Lebens, in dem Raúl und ich immer noch zusammen sind, in dem es manchmal zu Streit und Auseinandersetzungen kommt und wir uns als Freunde und Gefährten immer noch gut verstehen, gemeinsame Spaziergänge machen, zusammen Musik hören, kochen, aus dem Fenster blicken und vor allem über Gott und die Welt reden. Und es stimmt: Nach Raúls Tod habe ich meine Beziehung zu ihm in [meinen] Träumen fortgeführt. Wann immer ich mich in die unzähligen Notizbücher, Tagebücher und Theater-, Oper- und Filmprojekte vertiefe, die unvollendet oder als frühe Gesten seiner Schaffenskraft geblieben sind, verfolgt mich dieser Dialog, den ich weiterhin mit ihm führe, bis in den Schlaf. Im Falle von EL TANGO DEL VIUDO entdecke ich in den Räumen des Hauses, in dem er gemeinsam mit seinen Eltern, Olga and Don Ernesto, lebte, dieselben poetischen, philosophischen und kritischen Absichten wieder, die Raúls Arbeit prägen, nur in einer puren Form, wie bei einem neuen Spielzeug. Für mich ist die Vollendung seines ersten Spielfilms auch eine Möglichkeit, diesen Dialog zu materialisieren, der unmittelbar der Welt der Träume entspringt, in der wir Filme machen, als würden wir improvisierten Kochrezepten folgen, und in der wir mit Hilfe der uns zur Verfügung stehenden Mittel etwas erschaffen. Deshalb werden weder Raúl noch ich jemals mit dem Filmemachen aufhören. Im Puzzle seines Schaffens, das mehr als einhundertzwanzig Filme umfasst, wird EL TANGO DEL VIUDO Y SU ESPEJO DEFORMANTE ein grundlegendes Werk bilden. (Valeria Sarmiento)
Die Durchlässigkeit der Welt der Toten und der Lebenden
In den Jahren 2016 and 2017 erfuhren wir im Zuge unserer Recherchen und Nachbearbeitungen zu THE WANDERING SOAP OPERA – einem Film, bei dem Raúl Ruiz 1990 Regie führte und der unter Leitung der Filmemacherin Valeria Sarmiento vollendet wurde –, dass es Filmmaterial zu weiteren unvollendeten Projekten von Ruiz gab. Darunter befand sich auch ein Satz von 35-mm-Rollen seines ersten Spielfilms EL TANGO DEL VIUDO, im Jahre 1967 gedreht und in den Kellerräumen eines alten Kinos in Santiago de Chile eingelagert. In einem Zeitungsartikel aus dieser Zeit äußert sich Ruiz zu den Umständen, die es ihm unmöglich machten, die Audio-Postproduktion für diesen Film zu finanzieren: „Den Ton zu diesem Film muss die Zukunft bringen, für den Moment wird er tonlos verwahrt."
Dieser nun aus dem Keller befreite Film könnte für die Rettung von Raúl Ruiz‘ erstem Spielfilm stehen, den er im Alter von gerade einmal 27 Jahren drehte. Bei genauerer Betrachtung erkennen wir jedoch, dass diese erste Analyse unzureichend ist und wir es hier mit einem grundlegenden Werk zu tun haben, dessen Entstehungsprozess mehr als fünfzig Jahre lang (von 1967 bis 2019) gewissermaßen eingefroren war. Eine lange Zeit, um das ursprüngliche Filmmaterial vom Set in den Schnittraum zu bringen.
Die Rekonstruktion der Dialoge
Inzwischen wurde der Film unter der künstlerischen Leitung der Filmemacherin, Produzentin und Witwe von Ruiz, Valeria Sarmiento, in mehreren Schritten vollendet. Im Jahr 2018 übernahm eine Gruppe von Menschen, die von Geburt an stark schwerhörig und gleichzeitig Experten im Lesen von Gesichtsausdrücken, Lippen und Körpersprache sind, die Aufgabe, die Dialoge der Schauspieler auf der Leinwand zu entschlüsseln. Der Dramatiker und Drehbuchautor Omar Saavedra schuf eine angesichts der Komplexität des Werks ausgesprochen gelungene literarische Vorlage, mit deren Hilfe wir uns von dem Film entfernen und den richtigen Ton treffen konnten. Ruiz selbst bezeichnete EL TANGO DEL VIUDO als Experimentalfilm, der verschiedene komische Situationen des chilenischen Alltags mit Horror-Fantasy-Elementen verbindet und in dem ein verwitweter Lehrer vom Geist seiner Ehefrau heimgesucht wird.
Bereits im Schnittraum legten Valeria und ihr Team die Dialoge endgültig fest und erkannten dabei, dass die Figuren ihre Stadt während einer Phase bewohnen, in der sie den Eindruck eines aus der Zeit gefallenen Dorfes vermittelt, das in einem Zustand der Unterentwicklung verharrt. Dadurch entsteht eine Erzählatmosphäre, in der überraschenderweise auch einige charakteristische Elemente aus Ruiz‘ Filmen auftauchen, die er in diesem Film (seinem ersten Spielfilm) erprobte; zu nennen ist hier unter anderem die Durchlässigkeit zwischen der Welt der Lebenden und der Toten, in der Geister ganz beiläufig in der Wirklichkeit leben, als wären sie wie Menschen aus Fleisch und Blut. Darüber hinaus gibt es Figuren, die in einem Spiel der fortwährenden Persönlichkeitsspaltung zugleich eine und mehrere Personen darstellen. Einige Codes entstammen zudem dem magischen Denken der Mapuche und der Inselbewohner von Chiloé im Süden Chiles, die in Ruiz’ filmischem Universum häufig als Inspirationsquelle auftauchen.
Der Originalfilm und sein Abbild
Das wiederentdeckte Filmmaterial ist vollkommen zusammenhangslos und besteht aus kurzen, sich wiederholenden Fragmenten vorangegangener Szenen, die wie scharfkantige Teile keinerlei Verbindung zueinander aufweisen. Es mutet wie ein rätselhafter und dahinschwindender Alptraum voller spiegelverkehrter Bilder an, sowohl bei den Einzelaufnahmen als auch bei den umgekehrten Sequenzen. Darüber hinaus gibt es weitere Szenenfragmente, in denen neue Aufnahmen die bereits wiederholten Szenen aus einer anderen Perspektive zeigen. Valeria Sarmiento wollte eine Verbindung zwischen dem Konzept für diesen enigmatischen Film und den Zerrspiegeln herstellen, für die ihr Mann eine besondere Vorliebe hatte.
Sie erinnert sich lebhaft an einen handschriftlichen Eintrag in einem seiner Notizbücher, in dem sich Ruiz allgemein zu seiner Absicht äußerte, Filme mit einem spiralförmigen Aufbau zu drehen, diesen jedoch mit einem ‚erzählenden Spiegel‘ zu durchbrechen, durch den das Publikum gewissermaßen dazu gezwungen ist, bereits gesehene Szenen erneut zu durchleben. Damit wäre eine vollkommen andere sinnliche Erfahrung verbunden, die von einer neuen, formal, aber nicht inhaltlich redundanten Symbolkraft geprägt ist.
Dieser Text leistete einen maßgeblichen Beitrag zur Entschlüsselung der rätselhaften Filmaufnahmen und machte deutlich, dass EL TANGO DEL VIUDO in zwei Abschnitte unterteilt ist: Zum einen gibt es den Originalfilm und zweitens sein Abbild, in dem sich über ein neues erzählerisches Terrain neue sprachliche Ideen und neue Interpretationsmöglichkeiten eröffnen. Der Musiker und langjährige Mitarbeiter von Valeria und Raúl, Jorge Arriagada, war derart bezaubert von den ersten Schnittergebnissen zu EL TANGO DEL VIUDO, dass er eine Auswahl musikalischer Klangwelten schuf, deren Charakter von symphonisch bis minimalistisch reichte, um schließlich das Element zu finden, das die klangliche Identität des Films prägen sollte: eine Sonate für ein mit Handsägen und Theremin ausgestattetes Kammerorchester. (Poetastros)