Die Bedingungen der Fiktion
GLI APPUNTI DI ANNA AZZORI / UNO SPECCHIO CHE VIAGGIA NEL TEMPO geht ursprünglich auf das von Stefanie Schulte Strathaus in Zusammenhang mit dem Archiv des Berliner Kinos Arsenal initiierte Projekt Living Archive zurück, das 2012 begonnen wurde und in dessen Rahmen Filmemacher*innen, Kurator*innen, Theoretiker*innen und andere Kulturproduzent*innen eingeladen waren, dieses über 8.000 Werke enthaltende Archiv zu erforschen, um daraus zeitgenössische Projekte und Produktionen zu entwickeln. In diesem Archiv fand sich auch eine 16mm-Kopie des italienischen Underground-Films ANNA von Alberto Grifi und Massimo Sarchielli, der Ausgangspunkt und Referenz von GLI APPUNTI DI ANNA AZZORI wurde.
Dieser Film, der in den Jahren 1972 bis 1975 entstand, dokumentiert einige Monate im Leben eines jungen obdachlosen und drogenabhängigen Mädchens namens Anna, die ein Kind erwartet und der Grifi und Sarchielli im Frühling 1972 auf der Piazza Navona in Rom begegnen. Die beiden Männer bieten ihr bis zur Geburt ihres Kindes Hilfe an; im Gegenzug stimmt Anna zu, Gegenstand eines Cinéma-vérité-Filmprojekts zu werden, das zwischen Dokumentation und Re-Inszenierung, zwischen Realität und Fiktion, zwischen Empathie, Beobachtung und Ausbeutung oszilliert. In dem Film ANNA wird das Mädchen Anna Azzori zur Darstellerin ihres eigenen Lebens – eine Rolle, der sie sich jedoch im Laufe der Zeit zunehmend verweigert.
Der Film existiert in verschiedenen Längen und in unterschiedlichen Versionen von Portapak-Video bis zu 16mm-Material. Die ungewöhnliche Länge der finalen Version von 1975 (beinahe vier Stunden) und die nicht in die Endfassung eingegangenen Aufnahmen, die fast elf Stunden umfassen und sich im Archiv der Associazione Culturale Alberto Grifi in Rom befinden, liegt in dem Umstand begründet, dass Grifi im Jahr 1972 als erster Regisseur in Italien mit der gerade aufgekommenen Videotechnologie arbeitete anstatt mit teurem 16- oder 35mm-Material. Mit einer selbsterfundenen Vorrichtung namens ‚Vidigrafo‘ wurde das ursprüngliche Videomaterial auf 16mm Film rückübertragen. Die Premiere des Films ANNA fand 1975 im Rahmen der Berlinale in der Sektion Internationales Forum des Jungen Films statt.
„Indem ich den ‚Vidigrafo’ einsetzte, gelangte ich an Orte, die ich mit anderem Filmmaterial nicht erreicht hätte. Im Hinblick auf die filmische Sprache würde ich sagen, dass ANNA vielleicht den ersten Versuch darstellt, den ökonomischen Zwängen zu entkommen, die das Filmemachen üblicherweise bestimmen – ich war auf diese Weise in der Lage, ‚Leben‘ zu filmen.“ (Alberto Grifi)
Die suspendierte Zukunft
GLI APPUNTI DI ANNA AZZORI setzt – neben Bildern aus anderen römischen Archiven und neu gedrehtem Material – ausschließlich Bild- und Tonmaterialien aus dem Bestand der Associazione Culturale Alberto Grifi ein, die in ANNA nicht vorkommen. Im Verlauf der Projektentwicklung wurde ein Großteil der Dialoge und Gespräche der ungeschnittenen und unbearbeiteten Originalaufnahmen transkribiert, um so den Korpus dieses Films, seine Welt, seine polyphone und vielschichtige Erzählung zugänglicher zu machen; um die Geschichte des Films und der Person Anna zugleich besser erhellen und durchdringen zu können – sowohl den historischen Kontext als auch die spezifischen Umstände der Produktionsgeschichte von Grifis und Sarchiellis Werk.
Indem GLI APPUNTI DI ANNA AZZORI diese Archivmaterialien zu einem seiner Ausgangspunkte nimmt, untersucht der Film nicht zuletzt die Beziehung zwischen Zufall und Vorsatz, zwischen Probe und Wirklichkeit, Fiktion und Authentizität. In den Blick genommen wird – unter anderem – die Frage nach dem Leben und Tod von Fiktionen, nach den ‚Bedingungen der Fiktion‘, die hier aus einem nicht-fiktionalen Werk heraus entstehen. Die Vergangenheit eines Archivs wird beleuchtet, in dem bereits eine Zukunft erscheint, die noch nicht eingetreten ist, wie der Science Fiction-Autor Bruce Sterling schreibt: „Die Zukunft ist bloß eine Art Vergangenheit, die noch nicht geschehen ist.” Umso mehr ist dies im Hinblick auf die Grifi’schen Archivaufnahmen der Fall: Sie verkörpern eine angehaltene, suspendierte Zukunft, die nun in GLI APPUNTI DI ANNA AZZORI erstmals freigesetzt wird und in der Anna selbst ihre Stimme erhebt.
ANNA, der Film, wie auch Anna, seine Hauptdarstellerin, verkörpern emblematisch das Ende einer Epoche, in der „Politik und Ästhetik noch unauflösbar verknüpft“ schienen (Rachel Kushner). Der Film spiegelt die tiefgreifende Niederlage einer Bewegung wider, die schlicht unfähig war, den Lauf der Dinge zu verändern – ähnlich wie Grifi und Sarchielli, die ebenfalls nicht in der Lage schienen, Annas Leben eine stabilere Richtung zu geben, wie Alberto Grifi einige Jahre später in einem audiovisuellen Postskriptum – einer Art Entschuldigung bei Anna – zugegeben hatte.
Nicht zuletzt ist GLI APPUNTI DI ANNA AZZORI auch ein Film über das Kino: Es wird von einer Art des Filmemachens erzählt, die sich selbst dem Leben aussetzt, indem sie es beobachtet und sich zugleich doch auch immer der Bedingungen bewusst bleibt, unter denen sie stattfindet – nämlich den Bedingungen der Fiktion. Godard formulierte das einmal so: „Alles, was auf einer Leinwand auftaucht, ist Fiktion.“
Annas Wiedergängerinnen
GLI APPUNTI DI ANNA AZZORI erzählt die Geschichte einer weiblichen Filmfigur zwischen Wirklichkeit und Fiktion und stellt im wörtlichen Sinne auch einen „Spiegel, der durch die Zeit reist“ dar („uno specchio che viaggia nel tempo“ ist eine Formulierung aus einem Gedicht von Alberto Grifi). Zugleich ist der Film seiner Heldin gewidmet: Er beruht auf den (fiktiven) Notizen des Mädchens Anna und versteht sich sowohl als imaginäres Porträt als auch als feministische Antwort auf Grifis und Sarchiellis Vorlage. Der Film begleitet seine Hauptfigur, die Anna, Daphne und manchmal auch Gemma heißt, auf einer Zeitreise durch ihre eigene (Film-)Geschichte, sie streift durch Fragmente der Erzählungen anderer Filme, durch Städte, Archive und auch durch die virtuellen Landschaften eines zeitgenössischen Computerspiels.
Sie war ein Mensch, dann ein Baum, dann wieder ein Mensch; sie war die Ovid’sche Flussnymphe Daphne auf der Flucht vor Apoll, wurde später zu Anna und verwandelte sich irgendwann in eine junge Schauspielerin namens Gemma, die für die Rolle der Grifi’schen Anna gecastet wird. Sie sucht nach diesem Casting, weil sie ein paar Dinge klarstellen muss. Dabei durchquert sie einen verwunschenen Wald, in dem sie einigen jungen Frauen begegnet, einst virtuelle Heldinnen eines schon lange vergessenen Spiels, die dort als feministisches Kollektiv leben; sie gerät in das Rom der 1970er-Jahre, mitten in die Protestmärsche der Feministinnen. Sie nimmt an einer Versammlung junger Aktivistinnen im römischen Cinema Planetario teil und landet schließlich in einem verlassenen Freiluftkino, wo das Casting, zu dem sie wollte, bereits stattgefunden hat und wo sie schließlich ‚die Einstellung wechselt‘.
In GLI APPUNTI DI ANNA AZZORI verbindet sich die Vergangenheit (des Archivs) mit einer möglichen Zukunft: mit der Utopie einer queerfeministischen Politik, die andere Lebensmodelle entwirft. Ein Bild dieser Zukunft erscheint auch in der flüchtigen Begegnung mit einigen jungen Frauen, die im Rahmen eines weiteren Castings als Annas Wiedergängerinnen, aber auch als ihre Gefährtinnen in den Fragmenten dieses zerbrochenen Film-Spiegels für einen kurzen Augenblick in der Gegenwart aufleuchten. (Constanze Ruhm)