Die Kinder der Mine
Als Enkel eines Bergarbeiters gehört der Bergarbeiterstreik von 1995 zu den eindrucksvollsten Erlebnissen meines Lebens. Mit Schaufeln, Spitzhacken und Ankern bewaffnet kämpften die Bergleute gegen die Reform ihrer Altersvorsorge und zogen zu Tausenden lärmend und rufend durch die nächtlichen Straßen, um Seite an Seite ihre Rechte gegenüber dem Staat einzufordern. Damals irrten meine Freunde und ich durch den Tränengasnebel und begriffen nicht wirklich, was hier auf dem Spiel stand. In Erinnerung behalten habe ich von jener Zeit vor allem die Energie der Massen und die Entschlossenheit der Menschen.
Die einzigen visuellen Zeugnisse von damals stammen aus Videoarchiven zum Bergarbeiterstreik von 1995. Dass die Streiks derart heftig ausfielen, lag in den harten Arbeitsbedingungen und in der Wut der Arbeiter begründet. Heute haben wir oft eine verklärte Vorstellung von der damaligen Zeit. Das Leben eines Bergarbeiters betrachten wir als etwas Erhabenes und erhöhen es zu einem gesellschaftlichen Vorbild; dadurch verlieren wir die schwierigen Bedingungen der damaligen Arbeiterklasse aus dem Blick und vergessen, wie hoch der Preis des Überlebens während der Deindustrialisierung war. Soziale Gewalt gibt es bei uns auch heute noch, und vermutlich ist sie sogar noch ausgeprägter als im Jahr 1995. Mit dem Niedergang der Arbeiterklasse in ihrer uns bekannten Form hat diese Gewalt ein neues Gesicht bekommen. Das übrig gebliebene Gewaltpotenzial trifft insbesondere junge Menschen, die ihm auf unterschiedliche Weise begegnen: Die einen kämpfen, die anderen ergreifen die Flucht. Und obwohl die Solidarität jener Epoche einem ausgeprägten Individualismus gewichen ist, hat sich an der Entschlossenheit der Menschen und an ihrem Kampfeswillen nichts geändert.
Der Boxverein als Bezugspunkt
Was ist das Vermächtnis dieses Streiks? Der Aufstand der Arbeiter war Teil eines großen Ganzen und zog seine Kraft aus der gemeinsamen Sache, die gegen einen gemeinsamen Feind verteidigt wurde. Heutzutage findet der Kampf der Jugendlichen eher isoliert statt. Sie sind jedoch von demselben Siegeswillen oder zumindest von dem Wunsch getrieben, sich von den Erwartungen zu befreien, die auf ihnen lasten. Diese Überlegungen führten mich in den städtischen Boxverein und damit an einen symbolträchtigen Ort, der eine Metapher für den hier vermittelten und erlernten körperlichen und geistigen Kampf bildet. War es ein Zufall, dass einer der Trainer, auf die ich dort traf, Toumi, als ehemaliger Bergarbeiter an den Streiks teilgenommen hatte? Dass der Boxverein in meinem Film vorkommen musste, lag bald genauso nahe wie die Tatsache, dass die Boxkunst sich in dieser Geschichte zu einem Dreh- und Angelpunkt zwischen den Generationen von gestern und heute und damit zwischen meinen Protagonisten entwickeln sollte.
Die jungen Menschen, auf die ich traf, wussten rein gar nichts von den Kämpfen, die ihre Eltern und Großeltern ausgestanden hatten. Wem soll man die Schuld dafür geben? Das offizielle Bergbau‑ und Bergarbeitermuseum wurde von den ehemaligen Arbeitgebern errichtet, die darauf bedacht waren, die von den Arbeitern in blutigen Revolten errungenen Siege möglichst nicht zu thematisieren. Doch auch wenn die Erfahrungen nicht weitergegeben wurden, hat sich ein Gefühl des Kampfes und der Entschlossenheit in das kollektive Bewusstsein eingeschrieben und in den Körpern und Köpfen verankert: vorankommen um jeden Preis.
Lauf oder stirb, streik oder stirb.
Genau dieses Gefühl möchte ich in meinem Film GRÈVE OU CRÈVE vermitteln, in dem ich das Leben meiner Protagonisten, der Kinder der Mine, porträtiere. Heute werden die Kämpfe an völlig anderen Orten ausgetragen, und die jungen Menschen erleben den Kampf auf ganz eigene Weise – insbesondere in Sportklubs wie dem Boxverein, in dem ich auf diese neue Generation gestoßen bin, die alles für den Kampf tun würde; für einen Kampf mit Körper und Geist, mittels dessen sie sich in der Welt zu behaupten und sich eine lebenswerte Zukunft aufzubauen versuchen.
In GRÈVE OU CRÈVE geht es um den menschlichen Körper, der auf die Probe gestellt wird. Der Körper ist in diesem Film ein Mittel der Rebellion gegen das herrschende System und die damit verbundenen Ungerechtigkeiten. Er steht im Dienste von Emanzipation und Freiheit. Ein Körper geht niemals unversehrt aus einem Kampf hervor. (Jonathan Rescigno)