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175 Min. Rumänisch.

Am 29. Juni 1941 wurden die jüdischen Bewohner*innen der Stadt Iaşi zusammengetrieben und verprügelt, Geschäfte und Wohnungen geplündert, die meisten Männer erschossen oder in Züge gepfercht, in denen sie später erstickten. Am Pogrom beteiligten sich Deutsche, die überwiegende Zahl der Täter waren rumänische Polizisten, Militärs und Zivilisten. Wie kann ein Film mit diesem Verbrechen umgehen? Radu Jude und Adrian Cioflâncă wählen ein radikales, reduziertes Verfahren: Ihr Film nennt die Namen der Toten von A bis Z, illustriert dies mit Fotos aus Pässen und Familienalben, aus dem Off hört man erstaunlich nüchterne Erklärungen. Wiederholung, Anhäufung, Variation machen das Ausmaß der Gräuel nachvollziehbar, lassen Nuancen erkennen und geben der Zahl der Toten – 13.000 – eine konkrete Gestalt, bis am Ende, nach etwa zweieinhalb Stunden, noch einmal ganz andere Bildregister gezogen werden. (cn)

Radu Jude wurde 1977 in Bukarest (Rumänien) geboren. 2003 schloss er sein Filmstudium an der Bukarester Media University ab. Während des Studiums sowie anschließend arbeitete er als Regieassistent. Neben mehreren Kurz- und Spielfilmen realisierte er mit Țara moartă 2017 seinen ersten Dokumentarfilm.

Adrian Cioflâncă wurde 1974 in Piatra Neamt geboren. Er studierte Geschichte an der Universität Alexandru Ioan Cuza Iași (Rumänien). Als Historiker beschäftigt er sich insbesondere mit der Geschichte des Holocaust und des Kommunismus sowie der politischen Gewalt. Zwischen 2010 und 2012 arbeitete Cioflâncă für das Institute for the Investigation of Communist Crimes and the Memory of the Romanian Exile. Zurzeit ist er Direktor des Wilhelm Filderman Center for the Study of Jewish History in Romania. Cioflâncă war als Berater für verschiedene Film- und Theaterproduktionen tätig. Ieşirea trenurilor din gară ist sein erster Film.

Gespräch mit Radu Jude: „Die faschistische Vergangenheit war nicht vergessen“

Mit IEŞIREA TRENURILOR DIN GARĂ beschäftigen Sie sich ein weiteres Mal mit Antisemitismus und dem Thema der Verantwortung für die Geschichte in Rumänien. Über das Pogrom von Iaşi und den anschließenden Massenmord in zwei Todeszügen, denen 12.000 Menschen zum Opfer fielen, gab es bisher in Rumänien keine größere öffentliche Debatte, ebenso wenig über den Antisemitismus. Welche Rolle spielt die Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit in der gegenwärtigen politischen Kultur in Rumänien?

Keine besonders große. Nach der Revolution von 1989 gab es den verständlichen Wunsch, die kommunistische Diktatur anzuprangern und zu analysieren, die für unser Land in vielfacher Hinsicht brutal und destruktiv war, insbesondere während der Stalinistischen Ära und in den späten 1980-ern, den letzten Jahren von Ceauşescu. Die faschistische Vergangenheit war nicht vergessen, sondern wurde, im Gegenteil, von vielen zumindest teilweise positiv gesehen, weil sie antikommunistisch war. Andererseits wurde unter Ceauşescus Diktatur offensichtlich faschistisches Gedankengut in verdeckter Form aufgegriffen. Nach der Revolution fanden diese Ideen auf eine fast natürliche Art und Weise zu ihrem alten Zustand zurück. Der Nationalismus beispielsweise war eine Mischung aus antikommunistischem Hass und antidemokratischen Ideen, kombiniert mit den isolationistischen Ansichten der orthodoxen Kirche in den 1930er- und 1940er-Jahren. Unter Ceauşescu war er antieuropäisch und antiamerikanisch, nach dem Ende von dessen Regime tauchte er in unterschiedlichen Facetten wieder auf. In den 1990er-Jahren wurden Dutzende von Straßen nach dem faschistischen Militärdiktator Marschall Antonescu benannt, und es gab viele Statuen von ihm im ganzen Land – nur die Verhandlungen mit der Europäischen Union und der NATO zwangen uns, sie wieder abzubauen.
Vor nicht einmal zwei Jahren war es ziemlich schockierend, Politiker im Parlament zu sehen, die für ein beschämendes sogenanntes nationales ‚Familienreferendum‘ – im Grunde eine Initiative gegen LGBTQ-Rechte – gestimmt haben und dabei mit aus dem Faschismus stammenden Gedanken und Begriffen argumentierten. Dabei war die Rede davon, dass man sich vor der westlichen Dekadenz schützen müsse, Vertrauen in Traditionen und kirchliche Werte haben, die (Neo-)Marxisten bekämpfen müsse usw. Es war, als würden sich Marschall Antonescu oder Ceauşescu wieder an die Nation wenden. Ich kann die Frage aber auch einfacher beantworten, indem ich zähle, wie viele Filme sich mit der kommunistischen Ära und wie viele sich mit der faschistischen Vergangenheit befassen. Es gibt wahrscheinlich mehr als 50 Spiel- und Dokumentarfilme über die kommunistische Zeit, aber, abgesehen von meinen Filmen, nur zwei oder drei, die sich mit der faschistischen Epoche befassen.

Die Ereignisse, die Sie in Ihrem Film schildern, zeichnen sich durch eine besonders brutale, sadistische Gewalt aus, in der kalkulierte Übergriffe mit so genannten ‚spontanen‘ Übergriffen zusammenkommen. Beteiligt daran waren neben faschistischen Legionären, Polizisten und Soldaten auch andere, fast alle Teile der Bevölkerung. Wie begannen Sie die Recherche, woher stammen die Bilder und die Zeugenberichte? Waren Sie von dem Ausmaß an Grausamkeit überrascht?

IEŞIREA TRENURILOR DIN GARĂ entstand auf Anregung des Historikers Adrian Cioflâncă, der etwa zehn Jahre lang daran gearbeitet hat, Informationen und sämtliche verfügbaren Dokumente zu diesem schrecklichen Ereignis aufzufinden. Zuerst wollte ich keinen weiteren Film über ein Massaker machen, aber als Adrian mir von seiner Arbeit erzählte, fand ich das, was er recherchiert hatte, so wichtig, dass wir an das Thema ran mussten. Es sind also Adrians jahrelange Recherchen in allen möglichen Archiven, die zu diesem Film geführt haben. Was kann man zu den Grausamkeiten sagen? Dass es sehr schwer ist, sie sich überhaupt vorzustellen.

Mit den Portraits der später Verfolgten und Ermordeten erhalten die Opfer ein Gesicht. Damit wird Geschichte in individuelle Einzelfälle zerlegt und gleichzeitig als Ganzes nachvollziehbar. Am Ende des Films gibt es keine Erzähler mehr, die imaginierten Lebensläufe hinter den Porträts ebenso wie die Erlebnisberichte verstummen angesichts des Schreckens der Bilder. Wie entstand die dramaturgische Idee für diesen Film?

Diese Idee entwickelte sich schrittweise. Als es Adrian Cioflâncă mittels seiner Archivbestände möglich wurde, das Schicksal von mehr als 200 Opfern zu rekonstruieren, beschlossen wir, den Film wie eine Art Katalog aufzubauen. Damit konnten wir die Toten aus der kalten Abstraktion der Zahlen herausholen. Es ist eine Sache, von 5.000 oder 10.000 Toten zu sprechen, aber es ist etwas anderes, diese Menschen zu sehen, sogar auf einem Foto, mit dieser kleinen Spur ihres Lebens. Plötzlich weiß man, dass diese Menschen wirklich gelebt haben, wirklich eine Zukunft gehabt hätten, wenn diese nicht brutal zunichte gemacht worden wäre. Dann beschlossen wir, Fotos von dem eigentlichen Pogrom zu verwenden. Damit haben wir lange gezögert, denn einige dieser Bilder sind sehr schwer zu ertragen, und mit ihrer Verwendung tauchen viele ethische Fragen auf. Ich bin mir des damit verbundenen unlösbaren Widerspruchs sehr wohl bewusst. Am Ende sagten wir uns, dass wir diese Fotos zeigen sollten, weil sie den notorischen Leugnern zeigen, dass die Aussagen im ersten Teil des Films unmöglich als unwahr abzustreiten sind.
 
In Ihren Filmen reflektieren Sie auf ganz unterschiedliche Weise und mittels unterschiedlicher Genres tradierte Vorurteile gegen Roma und Juden. Sie zeigen, wie diese Vorurteile in bestimmten Machtkonstellationen in kollektive Gewaltexzesse münden. Welche Rolle kann das Kino bei der historischen Aufklärung spielen, wie kann es dem überall in Europa wachsenden Antisemitismus begegnen, und wie muss es sich dabei, um diese Aufgabe nicht zu konfektionieren, verändern?

Um ehrlich zu sein, ist das eine schwierige Frage, die ich oft höre. Dabei ist es offensichtlich, dass das Kino, die Kunst im Allgemeinen, nicht die Macht haben kann, etwas Schreckliches, das im großen Stil geschieht, zu ‚kontern‘. Was kann das Kino tun, um Kriege zu stoppen? Gar nichts. Aber gleichzeitig glaube ich, dass dieses Kino wichtig ist. Manche Leute haben über einige meiner letzten Filme gesagt, dass sie nutzlos sind, nichts ändern können, sich mit einer vergessenen Vergangenheit beschäftigen usw. Das kann man so sagen. Wenn sie aber nutzlos sind, warum gibt es dann so viele Menschen, die sich über diese Filme aufregen oder aggressiv reagieren, wenn sie merken, worum es darin geht? Für mich sind das Zeichen dafür, dass sie vielleicht nicht völlig sinnlos sind.

(Interview: Bernd Buder, Februar 2020)

Produktion Ada Solomon, Carla Fotea, Radu Jude. Produktionsfirma microFilm (Bukarest, Rumänien). Regie, Buch Radu Jude, Adrian Cioflâncă. Kamera Marius Panduru. Montage Cătălin Cristuțiu. Sound Design Dana Bunescu. Ton Dana Bunescu. Regieassistenz Vasile Todinca. Co-Produktion nomada.solo.

World Sales Taskovski Films

Filme

2006: Lampa cu caciula / The Tube with a Hat (25 Min.). 2009: Cea mai fericită fată din lume / The Happiest Girl in the World (100 Min., Forum 2009). 2011: Film pentru prieteni / A Film for Friends (58 Min.). 2012: Toată lumea din familia noastra / Everybody in Our Family (107 Min., Forum 2012). 2015: Aferim! (108 Min., Wettbewerb 2015). 2016: Inimi cicatrizate / Scarred Hearts – Vernarbte Herzen / Scarred Hearts (141 Min.). 2017: Țara moartă / Die tote Nation / The Dead Nation (83 Min.). 2018: Îmi este indiferent dacă în istorie vom intra ca barbari / Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen / I Do Not Care If We Go Down in History as Barbarians (140 Min.).

Foto: © microFilm

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