Unterwegs zu einer kreolischen Form des Kinos
OUVERTURES begann mit Louis Hendersons Wunsch, die Bedeutung des revolutionären Geistes von Toussaint Louverture für das heutige Haiti zu erforschen – ein Land, das seit seiner Befreiung aus der Versklavung durch Frankreich im Jahr 1804 zahlreiche politische Krisen erlebt hat. Die Entwicklung hin zur Unabhängigkeit wurde im Jahr 1791 mit einem berühmten Voodoo-Ritual im Wald ‚Bois Cayman’ im Norden des Landes eingeleitet. Das versklavte Volk stand gegen die Franzosen auf, und es folgten zwölf Jahre des Kampfes, die zur Gründung der ersten Schwarzen Republik in Amerika führten. Diese Revolution in Haiti bezeichnete C. L. R. James als „… den einzigen erfolgreichen Sklavenaufstand der Geschichte“, außerdem gilt sie als Höhepunkt in der Entwicklung der aufklärerischen Ideale von Freiheit und Menschenrechten im 18. Jahrhundert.
Seit dieser Zeit hat Haiti verschiedene Katastrophen erlitten wie zum Beispiel eine militärische Besetzung durch die Amerikaner, gewalttätige Diktaturen, ökonomische Zusammenbrüche und Naturkatastrophen, zuletzt das Erdbeben von 2010, bei dem an die 280.000 Menschen starben.
Haiti hat nie aufgehört, den Preis für seinen Sieg über die napoleonische Armee zu zahlen; aufgrund der schleichenden Rekolonisierung durch die westlichen Staaten herrscht in Haiti zunehmendes Chaos.
Es könnte unangebracht erscheinen, über die Geschichte von Toussaint Louverture und das revolutionäre Pantheon zu sprechen, während Haiti sich am Rande des Zusammenbruchs befindet. Aber der Geist dieser beispiellosen Revolution bleibt in den Köpfen und Körpern einer Jugend, deren einzige Zukunftschance die Flucht ist, in hohem Maße lebendig. Einige dieser jungen Menschen bilden die Gruppe junger Autor*innen und Schauspieler*innen, die der Produzent Louis Henderson und der Schriftsteller Olivier Marboeuf 2017 trafen. Gemeinsam riefen sie das Kollektiv „The Living and the Dead“ ins Leben und trugen dazu bei, OUVERTURES in einen vielstimmigen und polyphonen Film über den Geist von Louverture zu verwandeln, der im heutigen Port-au-Prince herumspukt.
Die Spiralform als zentrales Motiv
Ursprünglich sollte der Film die Arbeit einer Gruppe von Schauspieler*innen dokumentieren, die beschlossen hatten, das Stück „Monsieur Toussaint“ des martiniquanischen Dichters und Philosophen Édouard Glissant zu bearbeiten und vom Französischen ins haitianische Kreol zu übersetzen. Ausgehend von einer dokumentarischen Methode entwickelten sie ein Verfahren des fiktionalen Schreibens, das Improvisation und ‚inszenierte‘ Gespräche nutzt, um eine Art freies Improvisationskino zu schaffen. Nach und nach wurde die Geschichte zu einer Erzählung über eine Gemeinschaft in Bewegung, in der Migration, auf der Suche nach einer Zukunft an einem anderen Ort, verheißen durch eine neue Art von Exil, das auf der haitianischen Geschichte und Fantasie basiert.
Die Überquerung des Atlantischen Ozeans – zunächst durch Sklavenschiffe in die eine Richtung und später durch Toussaint Louverture, als ihn Napoleon nach Frankreich verbannte, in die andere Richtung – geht in dieser Erzählung in Form einer spiralförmig zurückkehrenden Geschichte weiter. Die Spiralform ist ein zentrales Motiv der haitianischen Kultur und allgemein der karibischen Kultur. Sie hat ihren Ursprung in der kreolischen Oralität (vom Geschichtenerzählen bis zum Gespräch), in der Geschichten aus Wiederholung und Variation entstehen und Sprache als Mittel dient, um der kolonialen Überwachung zu entkommen. Die Spirale ist also eine Möglichkeit, durch List einen Weg zur Emanzipation zu finden – so wie einst die Maroon-Sklaven Mittel und Wege fanden, gewalttätigen und feindlichen Räumen zu entfliehen, ihr Leben neu zu erfinden und eine neue Menschlichkeit zu schaffen.
Eine neue Beziehung zur Welt
Als Bild einer Welt, die in dem durch Sklaverei erzeugten Chaos verwurzelt ist, stellt die Spirale auch eine Möglichkeit dar, der Illusion einer vom Westen produzierten linearen Geschichte zu entkommen. OUVERTURES ist ein erster Versuch in Richtung einer kreolischen Form des Kinos, in der Zeit und Raum auf den Kopf gestellt werden, in der sich Orte jenseits von geografischen Gegebenheiten miteinander verbinden. Von Édouard Glissant bis hin zu dem großen haitianischen Dichter Frankétienne (und damit zu den Autoren der literarischen Bewegung der Spiralisten) ist die Erfindung einer neuen Sprache und einer neuen Beziehung zur Welt, die aus der chaotischen Erfahrung der Karibik resultiert, ein zentrales Thema. Diese Sprache könnte durchaus die Sprache unserer globalisierten Welt am Rande des Klimachaos sein.
Durch das kollektive Schreibverfahren und fiktionale Arbeiten versucht das Ensemble ‚The Living and the Dead’ den anthropologischen Blick zu vermeiden, der sich so oft auf Gesellschaften des globalen Südens richtet, es entzieht sich damit den folkloristischen Klischees von Haiti, die die Bilder in den Köpfen westlicher Künstler*innen und Filmemacher*innen bestimmen.
OUVERTURES ist deswegen kein Film über Haitianer, sondern ein Film, der mit Haitianern gedreht wurde. Die Menschen, die diesen Film ausmachen, sind nicht von einem einzelnen Autor ausgedachte Subjekte, sondern sie sind die Akteur*innen innerhalb einer Geschichte, für die sie die Verantwortung übernehmen, indem sie entscheiden, wie sie erzählt werden kann und wie sie aussehen muss. (The Living and the Dead)