Mehr als Komplizen der Diktatur
Grundlage für diesen Film war das Buch „Corporate Accountability in Crimes against Humanity“. In diesem ersten Bericht des argentinischen Staates werden 25 Fälle dokumentiert, bei denen es Hinweise auf eine Beteiligung von Unternehmen an Repressionen zur Zeit der Diktatur in den Jahren 1976 bis 1983 gibt. Das im November 2015 vom argentinischen Ministerium für Justiz und Menschenrechte veröffentlichte Werk, von dem nur einige wenige Exemplare existieren, besteht aus zwei jeweils 500-seitigen Bänden. Der Film will dieses Buch in bildhafter und physischer Form sichtbar machen und mit Leben erfüllen.
In jüngsten Gerichtsverfahren standen die unmittelbaren Täter*innen aus den Reihen des Militärs, der Polizei und der Sicherheitskräfte im Mittelpunkt. Auf die Frage, wie mit den Komplizen der Diktatur aus den Reihen der Wirtschaft umgegangen wird, gibt es dagegen noch keine Antwort. Allerdings sollten wir in diesem Zusammenhang besser von Verantwortung und nicht von Komplizenschaft sprechen. Diese Unternehmen tragen eine Verantwortung, weil sie sich aktiv an den Repressionen beteiligten, indem sie der Diktatur Mittel und Informationen zur Verfügung stellten und sich durch diese Unterstützung Vorteile verschafften. Das Konzept der Komplizenschaft wird dem nicht gerecht, weil es lediglich die Unterstützung von Handlungen impliziert, die von anderen ausgeführt werden.
Ausgehend vom herrschenden Paradigma im argentinischen Justizsystem lag der Fokus bisher ausschließlich auf den staatlichen Strukturen. Heute geht es darum, die Verantwortung auf andere Bereiche auszuweiten und nachzuweisen, dass nicht nur die Politik, sondern auch die Wirtschaft in die Pläne verstrickt war. Viele der betroffenen Unternehmen sind heute wichtige Wirtschaftsakteure, und in zahlreichen Fällen sind ihre Verbindungen zur Diktatur noch immer nicht bekannt.
In dem Film soll das ganze Ausmaß der Ereignisse kartografiert und katalogisiert werden, um über Einzelfälle hinaus gemeinsame Muster zu ermitteln. RESPONSABILIDAD EMPRESARIAL ist als eine Art ortsspezifische Performance angelegt, die den Raum als Zeugen und den Film als raumgestaltendes Mittel betrachtet. Doch während sich eine Karte auf diesen einen allwissenden, entfernten, unbewegten und zur Vereinfachung neigenden Standpunkt bezieht, will der Film im Gegensatz dazu einen Weg aufzeigen, um dem Gedanken einer Karte das Konzept einer Route entgegenzusetzen, einer Reise, in deren Verlauf Raum entsteht und die unvermeidliche Subjektivität dieses einzigartigen und einmaligen Standpunkts überwunden wird. Der Film folgt dieser Route auf seiner Reise zu Fabriken, die in einzigartigen, spontanen, performance-orientierten Aufnahmen festgehalten werden. Auf diese Weise soll ein Atlas aller im Buch dokumentierten Fälle entstehen, eine Momentaufnahme dieser Stätten der Erinnerung erstellt und den Geschichten eine Stimme gegeben werden.
Dank meiner Arbeitsweise, die ich bereits in früheren Filmen angewandt habe, kann ich mich dieser Aufgabe in völliger Einsamkeit widmen, indem ich ohne Crew und nur in Begleitung meiner Kamera zu diesen Orten reise. Die Themen und die Orte, die meine Filme bestimmen, leben von dieser intimen Form der Annäherung. Es sind Orte, die von Geistern aufgesucht werden, und man muss sich die nötige Zeit nehmen, um ihre Stimmen zu hören. Dabei sollte der Blick nicht nur auf die Vergangenheit, sondern auch auf die Gegenwart, die künftige Vergangenheit gerichtet sein, um Bilder entstehen zu lassen, in denen die Gegenwart zur Geschichte wird. (Jonathan Perel)
Eine unvollkommene Variation
In seinen bisher sieben Filmen ist Jonathan Perel streng einem einzigartigen ästhetischen Ansatz gefolgt. Jeder dieser Filme besteht aus statischen Totalaufnahmen architektonischer Räume und Objekte, die eng mit der jüngsten Diktatur (1976 bis 1983) in der argentinischen Geschichte verbunden sind, und soll an die in jener Zeit begangenen Gräueltäten erinnern. Perels filmische Kompositionen waren stets von einem ausgeprägten Hang zu naturalistischen Darstellungen geprägt. Ihre Echtzeit-Aufnahmen enthalten ausschließlich natürliches Licht, und ihr visueller Text wird lediglich von diegetischen Sounds und minimalen Kontextinformationen begleitet. Damit war jeder seiner Filme eine subtile Variation zu einem Thema, und Perel verfolgte darin aufmerksam, wie sich die Erinnerungskultur in Argentinien in den vergangenen zehn Jahren entwickelte. Bei seinem neuen Film entschied sich der Regisseur allerdings für einen radikalen Bruch mit seiner bisherigen Arbeitsweise. Während er sich in seinen früheren Filmen ausschließlich der Stille als Experimentierfeld widmete, sind in seinem jüngsten Werk Sounds allgegenwärtig. Mit diesem Wechsel der Ausdrucksform wird auch die ethisch-politische Verpflichtung deutlich, die dem Film zugrunde liegt.
Ein unentwegter Informationsfluss
In RESPONSABILIDAD EMPRESARIAL bricht Perel ab der ersten Minute mit den formalen Stilmitteln, die sein bisheriges Gesamtwerk geprägt haben. Noch bevor das erste Bild zu sehen ist, verliest eine Stimme aus dem Off den Urheberrechtshinweis zu einem offiziellen Bericht des argentinischen Ministeriums für Justiz und Menschenrechte. Darin wird erläutert, dass der Text kostenfrei zur Verfügung zu stellen sei und uneingeschränkt vervielfältigt werden könne. (1)
In dem zweibändigen Werk, das als Ausgangsmaterial für Perels Film dient, wird ausführlich dokumentiert, auf welche Weise Privatunternehmen die letzte Militärregierung des Landes bei ihren Verbrechen gegen die Menschlichkeit unterstützt haben. Inhaltlich fügt sich der Film zwar eindeutig in das bestehende Werk, doch die davon abweichende Form des Voiceovers zieht sich durch den gesamten Film und begleitet jede Aufnahme. Die Art, in der Perel den Urheberrechtshinweis in der Eröffnungssequenz des Films verliest, deutet darauf hin, dass er ihn als eine Art Aufgabe versteht. Seine eindringliche Stimme verleiht dem Text eine neue körperliche Existenz, während der Film gleichzeitig einem neuen Publikum seine Inhalte und damit bisher unbekannte Informationen nahebringt.
Es ist Perels unverkennbarem Talent für die Komposition filmischer Landschaften zu verdanken, dass jede einzelne Aufnahme seines künstlerischen Werks von ausgesuchter Schönheit ist; RESPONSABILIDAD EMPRESARIAL bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Allerdings lud Perels akustischer Minimalismus bisher eher zu stillen Betrachtungen entlang seiner eigenen Meditation über das Wesen der Stille ein. (2) Von dieser visuellen Suggestionskraft hat sein neuer Film zwar nichts eingebüßt, doch die Stimme aus dem Off lenkt nun ab von der inneren Einkehr zu den Klängen der Natur, und es ist für die Zuschauer nicht leicht, dem unaufhörlichen Informationsfluss zu folgen. Nichtsdestotrotz lassen sich in den einzelnen Fallstudien mit der Zeit Gemeinsamkeiten entdecken: Es geht um den Informations- und Mittelfluss zwischen Wirtschaft und Militär, die Verfolgung von Gewerkschaftsfunktionären, die Übertragung von Schulden im Wert von Hunderten Millionen Dollar auf den Staat und um gefolterte, ermordete und verschwundene Mitarbeiter. Perels bisheriges Werk ließ Raum für ein Nachdenken darüber, wie eine offizielle Erinnerungspolitik durch die Regierungen von Néstor und Cristina Fernández de Kirchner (2003–2015) auf der Grundlage von in Argentinien allgemein bekannten Fakten gestaltet werden könnte. In seinem neuen Film will er mit dem Überangebot an Informationen offenbar darauf hinweisen, dass dem Quellenmaterial während der Regierungszeit von Präsident Mauricio Macri (2015 bis 2019) nicht die gebotene Aufmerksamkeit zuteilwurde. (3)
Alle tragen Verantwortung
RESPONSABILIDAD EMPRESARIAL erinnert mit seiner angedeuteten Reise, die visuell mit 32 statischen Außenaufnahmen sämtlicher im Bericht des Ministeriums für Justiz und Menschenrechte erwähnten Fabriken dargestellt wird, unmittelbar an Perels früheren Film 17 MONUMENTOS (2012) mit dessen Echtzeit-Aufnahmen der siebzehn Mahnmale, die in ganz Argentinien im Gedenken an ehemalige Haft- und Folterzentren errichtet wurden. (4) Allerdings deutet der radikale Formwandel in seinem neuen Film – der Einsatz einer Off-Stimme – darauf hin, dass sich in der Zwischenzeit offenbar eine grundlegende Kontextverschiebung vollzogen hat. Während in 17 MONUMENTOS davon ausgegangen wurde, dass sich alle Menschen fortwährend darum bemühen müssten, die Erinnerung an die Verbrechen des Staates wachzuhalten, auch wenn dieser die Verantwortung für das Gedenken trage, plädiert RESPONSABILIDAD EMPRESARIAL ganz offenbar dafür, dass alle Menschen Verantwortung für die Erinnerung an das übernehmen müssten, was angesichts einer mangelnden Aufmerksamkeit von Seiten des Staates in Vergessenheit zu geraten droht. Der Film enthält zudem auch audiovisuelle Unzulänglichkeiten, die ganz bewusst als performative Handschrift eingesetzt werden und ein theoretisches Verständnis des Textes als Ganzes unterstützen sollen.
Die Zuschauer*innen von 17 MONUMENTOS, in dem abwechselnd siebzehn nahezu identische Aufnahmen fast ohne Kontexthinweise gezeigt werden, machen die Erfahrung, dass ihr Blick mit der Zeit über die Leinwand gleitet und Nebensächlichkeiten entdeckt. Im Gegensatz dazu führt das Übermaß an akustischen Informationen in Perels jüngstem Film dazu, dass die Aufmerksamkeit der Zuschauer von der Leinwand weg hin zu kleinsten Veränderungen des audiovisuellen Rahmens wandert, von dem das Bild umgeben wird.
Ästhetik der Notwendigkeit
Im Unterschied zu der makellos intonierten und verbindlichen Stimme eines Voiceovers, die man in einer Dokumentation über historische Gräueltaten erwarten würde, wird der aufmerksame Zuschauer sofort von Perels Erzählweise in den Bann gezogen, die bisweilen zögerlich klingt oder ins Stocken gerät, als wäre sie zeitgleich mit dem visuellen Bild aufgenommen worden. Und waren Perels Einzelaufnahmen bisher von Stille und ästhetischer Präzision geprägt, bemerkt das Publikum in RESPONSABILIDAD EMPRESARIAL ein gelegentliches und nahezu unmerkliches Zittern und Schaudern in den Aufnahmen. Außerdem ist jede Einstellung von einem Armaturenbrett oder einem Türrahmen umgeben, und die Zuschauer*innen werden von Bildern im Rückspiegel oder auf das Seitenfenster fallenden Regentropfen abgelenkt. Perel filmt die betroffenen Gebäude nur von außen und häufig bei Tagesanbruch. Diese beiden Stilmittel verleihen dem Film eine konspirative Atmosphäre.
Mit seiner von einem ethischen Imperativ bestimmten Ästhetik der Notwendigkeit macht RESPONSABILIDAD EMPRESARIAL die Schwierigkeiten deutlich, denen der Regisseur bei der Produktion seines Films begegnete. Damit erinnert Perels Film an das lateinamerikanische Dritte Kino und lässt sich durchaus als eine neue Variante des „imperfekten Kinos“ von Julio García Espinosa betrachten. (5) Angesichts der Tatsache, dass Perel sein filmisches Schaffen (und etwa zehn Jahre seines Lebens) den während der letzten Diktatur in Argentinien vergangenen Verbrechen gewidmet hat, ist sein politisches Engagement über alle Zweifel erhaben.
So wie die Vertreter des Dritten Kinos in den 1960er-Jahren ihre große Besorgnis über den Neokolonialismus und die internationale Ausbeutung zum Ausdruck brachten, so geht es auch in Perels jüngstem Film um eine transnationale Verantwortung, wenn er beispielsweise auf die Beteiligung von Ford, Mercedes Benz und Fiat an den brutalen Verbrechen der Diktatur hinweist. Für ein internationales Publikum ist dies möglicherweise die überraschendste Offenbarung, die dieser Film bereithält. (Niall H. D. Geraghty)*
(1) Das Buch mit dem Titel „Responsabilidad empresarial en delitos de lesa humanidad. Represión a trabajadores durante el terrorismo de Estado“ (2015) kann hier heruntergeladen werden.
(2) Siehe Niall H.D. Geraghty: „Sonorous Memory in Jonathan Perel’s El predio (2010) and Los murales (2011)“, Memory Studies, August 2018.
(3) Der Bericht wurde zwar 2014 während der Präsidentschaft von Cristina Fernández de Kirchner in Auftrag gegeben, aber erst im November 2015, einen Monat vor der Amtsübernahme von Präsident Macri, veröffentlicht.
(4) In den vergangenen Jahren arbeitete Perel durchgehend in Serienform. TOPONIMIA (2015) bestand beispielsweise aus vier aus identischen Filmsequenzen aufgebauten Kapiteln, die an unterschiedlichen Drehorten aufgenommen wurden. Jeder dieser Filme erinnert auch an das Filmschaffen von James Benning – beispielsweise EASY RIDER (2012) –, den Perel als Inspirationsquelle für seine eigene Arbeit bezeichnet hat.
(5) Siehe Julio García Espinosa: „For an Imperfect Cinema“ (1969), in: Film Manifestos and Global Cinema Cultures: A Critical Anthology, hrsg. von Scott MacKenzie (Berkeley 2014), S. 220–30.
*Niall H. D. Geraghty ist Dozent für lateinamerikanische Kulturwissenschaften und Leverhulme Early Career Fellow am Fachbereich für Spanisch, Portugiesisch und Lateinamerikastudien des University College London.