Arbeit, Leben und die ‚reine Liebe’
Als ich anfing, MENTAL (Observational Film # 2, 2008) in Chorale Okayama, einer kleinen ambulanten psychiatrischen Klinik, zu drehen, interessierte ich mich vor allem für das Leben der Patienten dort. Ich schenkte dem älteren Arzt, der immer etwas schläfrig aussah, wenn er den Patienten in seinem Sprechzimmer zuhörte, nicht sonderlich viel Aufmerksamkeit. Bald jedoch merkte ich, dass dem Arzt viel Vertrauen und Liebe von Seiten seiner Patienten entgegengebracht wurde – als wäre er eine Art Gott oder Buddha. Ich begann mich zu fragen, wer Dr. Masatomo Yamamoto, dieser Veteran der Psychiatrie, eigentlich ist.
Erst als ich MENTAL schnitt, entdeckte ich seine verborgene wahre Größe. Während ich beobachtete, wie Dr. Yamamoto seine Patienten beriet, wurde mir klar, dass jedes Wort und jede Handlung von ihm Teil seiner therapeutischen Strategie sind. Mir ist auch aufgefallen, dass alles, was er tut, auf einem stillen, tiefen Mitgefühl für seine Patienten beruht. Damals kam mir die Idee, eines Tages einen Dokumentarfilm über diesen außergewöhnlichen Arzt zu drehen. Seither sind zehn Jahre vergangen.
Im Februar 2018 erfuhr ich, dass Dr. Yamamoto im Alter von 82 Jahren seine Arbeit in der Klinik Ende März jenes Jahres beenden würde. Wenn ich einen Film über ihn machen wollte, musste ich also sofort mit der Arbeit beginnen. Damals war ich gerade damit beschäftigt, meinen Film INLAND SEA in Tokio zu promoten, aber ich beschloss, wann immer ich Zeit zum Drehen hatte, mit dem Hochgeschwindigkeitszug nach Okayama zu pendeln. Wie immer hatte ich zunächst keine klare Vorstellung davon, was für einen Film ich machen würde. Der Entstehungsprozess basierte wie bei meinen anderen Filmen auch auf meinen untenstehenden ‚Zehn Geboten’, einem Regelwerk, das ich mir selbst auferlege.
Während ich Dr. Yamamoto, einen selbsterklärten Workaholic, filmte, hatte ich sofort das Gefühl, dass die Psychiatrie sein Leben ist. Seine Arbeit definierte, wer Masatomo Yamamoto war. Seine Arbeit war sein Lebensinhalt. Und er war gerade im Begriff, ihn loszulassen.
Wie wird Yamamoto ohne Titel und ohne seine Rolle als Arzt leben? Da ich selbst ein Workaholic bin, hat mich das wirklich interessiert. Der Weg, den er einschlagen wird, muss auch ich – wie viele andere Menschen – eines Tages gehen.
Während ich Dr. Yamamoto aus diesem Blickwinkel filmte, tauchte eine weitere Protagonistin auf: Yoshiko Yamamoto, seine Frau. Am Ende stellte sich heraus, dass der Film eher von dem Paar als von dem Arzt handelt. Ganz unerwartet habe ich einen Film über ‚reine Liebe’ gedreht. (Kazuhiro Soda)
Zehn Gebote von Kazuhiro Soda
1. Keine Recherchen.
2. Keine Treffen mit Protagonisten.
3. Keine Drehbücher.
4. Bediene die Kamera selbst.
5. Drehe so lang wie möglich.
6. Beobachte überschaubare Bereiche möglichst genau.
7. Lege vor der Montage kein Thema oder Ziel fest.
8. Keine Narration, keine eingeblendeten Titel, keine Musik.
9. Verwende lange Einstellungen.
10. Finanziere die Produktion selbst.
Gespräch mit Kazuhiro Soda: „Es gibt für mich als Filmemacher keine perfekte Distanz“
SEISHIN O ist der neunte Teil der Reihe Observational Films, einer Folge von Dokumentarfilmen, die Sie 2007 mit CAMPAIGN, dem Observational Film # 1 begannen. Die Filme stellen Sie nach Ihren eigenen Regeln her, den sogenannten Zehn Geboten. Wie kam es zu diesen selbst gewählten Leitlinien?
Die Zehn Gebote sind ein Regelwerk, das ich mir ausgedacht habe, um für Unerwartetes offen zu bleiben und Entdeckungen machen zu können, ohne voreingenommen zu sein. Am Anfang meiner Laufbahn habe ich viele Dokumentarfilme für NHK, den öffentlich-rechtlichen Fernsehsender in Japan, gedreht. Im Verlauf dieser sieben Jahre war ich zunehmend frustriert über die Art und Weise, wie diese Filme gemacht werden mussten.
Eines der Probleme bestand darin, dass ich vor den Dreharbeiten viel recherchieren musste, um detaillierte Drehbücher mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende zu schreiben. Ich musste die Geschichte des Films aufzuschreiben, bevor ich mit dem Drehen angefangen hatte! Wenn das Drehbuch anschließend die Hierarchien des Fernsehsenders durchlaufen hat und genehmigt wird, ist es fast unmöglich, den festgelegten Ablauf der Produktion zu ändern, selbst wenn man während der Dreharbeiten etwas entdeckt, was der ursprünglichen Planung völlig entgegensteht. Dabei taucht eigentlich immer etwas ganz Anderes oder Interessanteres als das auf, was in dem Drehbuch steht, das man geschrieben hat. Wenn man das dann aber bei den Dreharbeiten aufgreift und damit zurück zum Sender kommt, gibt es Ärger. Ich finde, dass dies der eigentlichen Idee des Dokumentarfilms widerspricht. Wenn man alles schon vorher weiß, warum sollte man sich dann die Mühe machen, einen Dokumentarfilm zu drehen?
Meine Zehn Gebote sind also als Reaktion auf meine Fernseharbeiten entstanden. Sie sind eigentlich Anti-TV-Gebote. Wenn man alle meine Gebote umdreht, werden sie zu einem Leitfaden zum Thema ‚Wie mache ich Fernsehdokumentationen’.
SEISHIN O knüpft an ihren Film MENTAL aus dem Jahr 2008 an, in dem Sie sich schon einmal mit der Arbeit von Dr. Yamamoto beschäftigt haben. In der Reihe der Observational Films finden sich auch Filme über das Theater, über die Bewohner einer Insel, über eine Austern-Fabrik, um nur drei Beispiele zu nennen. Wie finden Sie Ihre Stoffe?
Da ich keine Recherchen anstelle, muss ich mich auf meine persönlichen Verbindungen, auf Begegnungen und meinen Instinkt verlassen. Ich habe CAMPAIGN gedreht, weil mein ehemaliger Klassenkamerad Kazuhiko Yamauchi für eine Wahl kandidierte und mir unbeschränkten Zugang zu seiner politischen Kampagne gewährte. Wir drehten OYSTER FACTORY, weil wir, Kiyoko Kashiwagi – meine Frau und die Produzentin meiner Filme – und ich, uns während eines Urlaubs in Ushimado mit einheimischen Fischern anfreundeten. Wir trafen die Protagonisten von INLAND SEA auf der Straße, während wir Landschaftsaufnahmen für OYSTER FACTORY machten.
Wie Sie sehen, beruhen meine Stoffe nicht auf einem Konzept oder auf einem gesetzten Thema. Ich begegne immer konkreten Situationen oder Menschen, die mich faszinieren, und erst durch das Filmen und im Schnitt entdecke ich dann das Thema des Films. Die Protagonist*innen in meinen Filmen sind für mich kein Hilfsmittel, um eigene Thesen oder Ideologien zu untermauern.
Man kommt als Zuschauer von SEISHIN O den Protagonisten Dr. Yamamoto und seiner Frau Yoshiko Yamamoto sehr nahe, es ist fast so, als würde sich die beinahe freundschaftliche Beziehung zwischen Ihnen und ihren Protagonisten auf das Publikum übertragen. Wie gehen Sie mit dem Verhältnis zwischen Nähe und der notwendigen Distanz als Filmemacher zu Ihren Protagonist*innen um?
Ich balanciere die Distanz zu den Protagonist*innen in meinen Filmen nicht bewusst aus. Genauso wie ich versuche, zu jedem, mit dem ich im täglichen Leben zu tun habe, freundlich und aufrichtig zu sein, versuche ich auch, zu meinen Protagonist*innen freundlich und aufrichtig zu sein. Wenn wir uns nahe kommen, zeigt sich diese Nähe natürlich im Film. Wenn wir distanziert sind, zeigt sich das auch im Film. Es gibt für mich als Filmemacher keine perfekte Distanz. Ich lasse die Beziehung einfach so sein, wie sie ist.
Die Zehn Gebote des Filmemachens, die sie aufgestellt haben, machen deutlich, dass Sie Freiheit und Unabhängigkeit für das Filmen und Beobachten essenziell finden. Dennoch gibt es materielle und organisatorische Notwendigkeiten und Zwänge. Wie finanzieren Sie ihre Filme?
Wie Sie in meinen Zehn Geboten sehen können, besteht meine Politik darin, die Produktion meiner Filme selbst zu bezahlen, um völlig unabhängig zu sein. Tatsächlich habe ich noch kein einziges meiner Projekte ‚gepitcht’, weil ich ja im Vorfeld auch nie weiß, was für einen Film ich machen werde. Wir verwenden unser eigenes Geld, um die Filme zu drehen, zu schneiden und fertigzustellen. Und wir verdienen Geld, indem wir unsere Filme an Verleiher verkaufen, Gebühren für Vorführungen bekommen oder am Gewinn an den Kinokassen beteiligt werden. Diese Einnahmen nutzen wir, um weitere Filme zu realisieren und um davon zu leben. Der gesamte Prozess ist sehr unabhängig und befreiend. Er erlaubt mir auch, spontan zu sein, weil ich nicht auf die Bewilligung oder Finanzierung meiner Projekte warten muss, bevor ich drehe. Tatsächlich bin ich aber selbst oft darüber erstaunt, dass es uns gelungen ist, in den letzten fünfzehn Jahren so zu überleben.
Die Produzentin Ihrer Filme ist Ihre Frau Kiyoko Kashiwagi, mit der Sie eng zusammenarbeiten. Wie gestaltet sich diese Zusammenarbeit?
Kiyoko ist Tänzerin, Choreographin und Tai-Chi-Spielerin. Sie hat keine Ausbildung als Filmemacherin. Aber wir haben den gleichen Geschmack in Bezug auf Filme und Kunst im Allgemeinen, so dass wir sehr gerne zusammenarbeiten. Kiyoko ist in vielen meiner Projekte eine Schlüsselfigur. Die Klinik, die in MENTAL vorkommt, habe ich durch ihre Mutter, Hiroko Kashiwagi, kennengelernt. Die Protagonisten von PEACE sind ihre Eltern Hiroko und Toshio Kashiwagi. Wir haben OYSTER FACTORY und INLAND SEA in Ushimado gedreht, was Hirokos Geburtsort ist.
Bei OYSTER FACTORY begann Kiyoko, sich stärker als zuvor in den Drehprozess mit einzubringen. Sie wurde sogar zu einer wichtigen Nebenfigur. Mir gefällt diese Entwicklung, weil sie sehr natürlich verlief. Sie macht deutlich, dass wir nicht nur Beobachter während der Arbeit an den Filmen sind, sondern auch aktiv Beteiligte.
Jedes Mal, wenn ich während des Schneideprozesses eine neue Version des Rohschnitts habe, sehen wir sie uns gemeinsam an und diskutieren darüber. Kiyoko ist meine ‚geheime Editorin’. Wir sind nicht immer einer Meinung, aber ich ignoriere nie, was sie über meine Schnitte sagt, weil ich ihr als Künstlerkollegin vertraue.
(Interview: Gabriela Seidel-Hollaender, Januar 2020)