Direkt zum Seiteninhalt springen

90 Min. Gälisch, Englisch.

Laut Abspann wurde das Material für The Two Sights zwischen 2017 und 2019 auf den Äußeren Hebriden „gesammelt“. Aber um was für Material handelt es sich? Zum einen sind da die atemberaubenden 16-mm-Landschaftsaufnahmen: Felsklippen, Strände und Ebenen, Pflanzen und Tiere, Häuser und Schiffe, wechselhafte Lichtverhältnisse. Zum anderen – aufgenommen mit einem Mikrofon, das in den ersten Einstellungen zu sehen ist – sind da die Geräusche: kreischende Vögel, brausender Wind, tosendes, gurgelndes, tröpfelndes Wasser – und aus dem Off erzählt eine Stimme, auf Englisch und Gälisch, von Hundeskeletten, versunkenen Dörfern, sterbenden Angehörigen; manchmal erklingen auch Lieder, hört man den Seewetterbericht, oder es herrscht Stille. Wie in jeder guten Sammlung geht es nicht um die einzelnen Bestandteile, es geht um Schnittpunkte, um die Krähe im Stacheldraht, die eine bisher unerzählt gebliebene Geschichte evoziert, um den Gesang einer Frau, der das Wasser leicht zu kräuseln scheint, und es geht darum, dass jede Erzählung von der rauschenden Luft getragen wird. Sehen, mit Augen und Ohren – zwei Perspektiven, die ineinanderfließen. (jl)

Joshua Bonnetta wurde 1979 in Kanada geboren. Er arbeitet mit analogem Film- und Tonmaterial, das im Rahmen von Kinovorführungen, Performances und Installationen international zur Aufführung kommt.

Interview mit Joshua Bonnetta: „Die Kinematografie ist für mich eine Form der Klangnotation“

Können Sie uns etwas zur Entstehung von THE TWO SIGHTS sagen?

Ich habe den Film während eines Stipendiums am Taigh Chearsabhagh Museum & Arts Centre/UistFilm auf den Äußeren Hebriden konzipiert. Andy Mackinnon, der UistFilm leitet und mich während meines Aufenthalts betreute, bat mich, eine ortsspezifische Arbeit mit Bezug auf die Umgebung und die örtliche Bevölkerung zu entwickeln; insgesamt habe ich mehrere, unterschiedliche Projekte umgesetzt, von denen eines THE TWO SIGHTS ist. Es war ein Glücksfall für mich, denn es gibt nicht viele solche Aufenthaltsstipendien im Bereich Film, geschweige denn welche, die von einem Filmemacher geleitet werden. Für Andy Mackinnon war es vollkommen in Ordnung, dass ich keinen traditionellen Ansatz verfolgte, und er hat mir Zeit und Raum gegeben, um das Projekt von Grund auf zu entwickeln.
Begonnen habe ich damit, die Beziehung zwischen der physischen Umwelt und ihren lokalen Erzählungen möglichst umfassend zu erforschen. Ich wollte herausfinden, wie Geschichten von ihrer Umgebung geprägt werden. In diesem Zusammenhang hat ich mich insbesondere die Rolle der akustischen Umwelt interessiert, aber auch Licht, Wetter, Geologie usw. Ich habe so viele verschiedene Leute befragt, wie ich konnte. Diese Gespräche waren unstrukturiert und dialogorientiert, ohne vorab festgelegte Fragen; ich versuchte dabei lediglich, Geschichten zu finden, in denen die Umgebung eine entscheidende Rolle spielte. Am Ende hatte ich eine Reihe von Gesprächen, in denen es hauptsächlich um Ton geht. Daraus entstand eine frühe Version des Films, die sich auf eine sich verändernde akustische Umwelt der Inseln konzentrierte.
Im Verlauf meiner Recherchen suchte ich in Volksmärchen und anderen Überlieferungen auf der Insel nach Verbindungen zwischen Klang und Umwelt, und ich stieß auf eine Menge Material zum ‚zweiten Gesicht‘, also der Fähigkeit, zukünftige Ereignisse vorherzusagen, die meistens mit einem Todesfall zusammenhängen. Die Äußeren Hebriden galten früher als ein Ort von Seher*innen, und das spielt in diesen Geschichten eine wichtige Rolle.
Die Weissagungen teilen sich den Seher*innen in Form von Visionen oder Geräuschen mit, oder sie lassen sich mithilfe von Tieren, Knochen oder dem Witterungsverlauf voraussagen. Das klangliche Element dieser Visionen machte mich neugierig, und ich begann, im Anschluss an meine übliche Befragung auch Fragen zum ‚zweiten Gesicht’ zu stellen. Dieses neue Material wollte ich eigentlich für ein ganz anderes Projekt verwenden. Erst während der Montage merkte ich, dass es schon die ganze Zeit Teil des Films gewesen war, und dass die Klänge und Bilder, die ich gesammelt hatte, vollkommen in Einklang mit diesen Geschichten standen.
Während der Arbeit an THE TWO SIGHTS habe ich oft darüber nachgedacht, was passiert, wenn einem Ort die in seiner Umgebung verwurzelten Geschichten verlorengehen, vor allem im Zusammenhang mit den Veränderungen der Umwelt. Letztlich ist mir klar geworden, dass es für mich in diesem Film nicht nur um das ‚zweite Gesicht’ geht, sondern auch um die Erforschung einer historischen Grauzone.

Filmemacher*innen überlegen genau, wie sie einen Film beginnen. Warum haben Sie sich dafür entschieden, den Film mit einem Bild von sich selbst – dem Tontechniker und Filmemacher – zu eröffnen, während Sie dabei sind, ein Mikrofon für die Aufnahme einzurichten?

Ich wusste schon früh, dass das Bild des Tonmanns, der das Mikrofon auf dem Hügel aufbaut, die erste Einstellung des Films sein würde. Ich wollte mit einer Einstellung beginnen, die die filmische Beziehung zwischen Ton und Bild reflektiert und bildhaft in den Vordergrund stellt; das asynchrone symbolische Bild und das synchrone räumliche Bild. Dieser Moment des Übergangs vom Asynchronen zum Synchronen markiert eine bewusste Öffnung in den Raum des Films durch die Techniken und die Sprache, die die Wahrnehmung vermitteln.

Wie hat sich Ihre Erfahrung mit Klang in diesem Film niedergeschlagen?

Ich betrachte das Klangdesign im Film als eine Ausweitung der Konkreten Musik, das heißt, die Kinematografie ist für mich tatsächlich eine Form der Klangnotation. Während der Arbeit an diesem Film habe ich ihn immer als eine längere Klangkomposition verstanden und das visuelle Element und die Montage als eine Methode benutzt, um seine Form und Struktur zu gestalten. Alle Bilder sind meiner Ansicht nach Aufzeichnungen von Klang.

Einige der Sequenzen deuten auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem Archiv hin, insbesondere mit dem vernachlässigten oder zerfallenden Audioarchiv. Haben Sie diese Beziehung zu den Weissagungen durchdacht, sei es assoziativ oder eher kritisch?

Die Beschäftigung mit dem Archiv ergab sich eher aus der Sorge um die Erhaltung der Materialien, auf die ich bei der Arbeit an dem Film gestoßen bin, sowohl was die physischen Medien als auch die Geschichten betrifft, und aus der Sorge um alles, was da draußen möglicherweise nicht erhalten werden kann. In gewisser Weise ist THE TWO SIGHTS selbst ein kleines Archiv, da er einen Teil der sich wandelnden akustischen Umwelt und der Gespräche bewahrt, die ansonsten nur innerhalb der Oral History überliefert sind. Aber der Film ist natürlich nur ein winziges Fenster zu einer Landschaft, die einen immensen Reichtum an zumeist mündlich überliefertem Wissen birgt.
Ich glaube, diese Ängste zeigen sich in bestimmten Teilen des Films, und man könnte sie als Weissagungen in Bezug auf Dinge verstehen, die verloren gehen könnten. Dazu fallen mir zwei Dinge ein: die Audiokassette und die Freunde, die Torf stechen. Die Kassette habe ich in einem verlassenen Bauernhaus gefunden, und von ihr stammt die Stimme, die man in dieser Einstellung singen hört. Ich habe sie mit Hilfe von Taigh Chearsabhagh übersetzt, aber wir konnten nicht herausfinden, wer genau darauf zu hören ist.
Auf der Kassette ist das Sprechen, Lachen und Singen von Menschen aufgenommen worden, im Hintergrund bellen Hunde, und manchmal singen Leute ins Mikrofon. Ich wollte die Kassette nicht von dort wegnehmen, wo ich sie gefunden hatte, aber ich hatte Sorge, dass die Aufnahmen darauf verloren gehen könnten. Die andere Szene, die mir einfällt, ist die mit den Torfstechern, Duncan und Ian. Duncan nennt Ian verschiedene Namen von Orten und erläutert deren Bedeutung, und er erklärt ihren Bezug zu dem Ort, an dem sie Torf stechen. Hier wird deutlich, wie vieles in die Sprache der Landschaft eingeschrieben ist, das verloren gehen könnte wie die verrottenden Bücher, die jemand zehn Meter von ihnen entfernt im Gras liegen gelassen hat und die für mich wie eine Weissagung oder Metapher für das umfangreiche Wissens sind, das das Land in sich birgt und das möglicherweise verschwinden wird.

(Interview: Stephanie Spray, Februar 2020)

Regie, Buch Joshua Bonnetta. Kamera Joshua Bonnetta. Montage Joshua Bonnetta. Musik Joshua Bonnetta. Sound Design Joshua Bonnetta. Ton Joshua Bonnetta. Mischung Josh Berger.

Filme

Auswahl: 2012: American Colour (25 Min., Videoinstallation, Forum Expanded 2012), Remanence I – (Lost, Lost, Lost, Lost) (2 Min., Forum Expanded 2013). 2013: Strange Lines and Distances (Videoinstallation, Forum Expanded 2013). 2017: Lago (Soundinstallation, 44 Min., Forum Expanded 2017), El mar la mar (94 Min., Forum 2017).

Gefördert durch:

  • Logo des BKM (Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien)
  • Logo des Programms NeuStart Kultur