Sehen wir dasselbe, wenn wir dasselbe ansehen?
Während des Spanischen Bürgerkriegs schrieb ein bekannter Londoner Rechtsanwalt einen Brief an Virginia Woolf, in der er ihr folgende, möglicherweise als Provokation gedachte Frage stellte: „Wie können wir Ihrer Meinung nach einen Krieg verhindern?“ In ihrer Antwort schlug Woolf zunächst vor, die Verwendung des Wörtchens „wir“ in einem kleinen Gedankenexperiment zu untersuchen. Was würde passieren, so fragte sie ihn, wenn beide die allwöchentlich veröffentlichten Bilder des Krieges betrachteten? „Wir wollen doch einmal sehen“, so schrieb sie, „ob wir beide beim Anblick derselben Bilder auch dieselben Gefühle verspüren.“
Als ich vor fünf Jahren das erste Mal auf diesen Briefwechsel stieß, war dies der Moment, in dem die Idee zu meinem Film THE VIEWING BOOTH entstand. Woolf schrieb diese einfachen und prophetischen Worte zu einer Zeit, als die Fotografie des menschlichen Leids sich zu einem Medium der Wahrheit entwickeln sollte. Als ich diese Worte achtzig Jahre später zu einer Zeit las, in welcher der Begriff Wahrheit im öffentlichen Diskurs sehr umstritten ist, fragte ich mich: Sehen Menschen, die meine Bilder betrachten, dasselbe wie ich?
Woolfs Worte erlaubten es mir, oder besser gesagt, sie verlangten von mir, die Funktionsweise nicht-fiktionaler Bilder, vor allem auch hinsichtlich ihrer Rolle bei der Verteidigung der Menschenrechte und sozialen Gerechtigkeit, zu hinterfragen. Jahrelang war ich auf der Suche nach den geeigneten filmischen Mitteln. Wenn Dokumentarfilme die Realität erforschen, so sagte ich mir, dann muss es auch einen Weg geben, die in diesen Filmen abgebildete Realität zu erkunden. Je länger ich nach einem filmischen Weg dafür suchte, desto häufiger beschlich mich das Gefühl, dass ich, um Bilder zu verstehen, nicht mehr auf die Bilder schauen, sondern die Kamera auf die Betrachter*innen richten sollte. THE VIEWING BOOTH ist das Ergebnis dieser Überlegungen.
Obwohl der Film Fragen berührt, die mich über einen langen Zeitraum beschäftigt haben, ist THE VIEWING BOOTH letzten Endes beinahe zufällig während eines Drehs entstanden, bei dem ich eigentlich nur eine Projektidee in einem Pilotfilm erproben wollte. Meine jahrelangen Überlegungen fanden plötzlich und unerwartet ihre filmische Ausdrucksform, als die mir bis dahin unbekannte Maia Levi eine provisorische Filmkabine betrat, die ich an der Temple University in Philadelphia aufgestellt hatte. Maias Dialog mit den Bildern aus Palästina und Israel und die Art und Weise, wie sie ihre eigene Wahrnehmung in Worte fasste, brachte mich dazu, mich ganz anders mit meiner Arbeit als Bildgestalter auseinanderzusetzen. Das Ergebnis ist ein kleiner, intimer Film, der die Zuschauer*innen auffordert, sich mit grundlegenden, universellen Fragen zur Wahrnehmung nichtfiktionaler Bilder in der heutigen Zeit zu beschäftigen.
Der introspektive Charakter von THE VIEWING BOOTH bestimmte die unkonventionelle Form und Struktur des Films, die bisweilen an einen Spiegel oder einen Spiegelsaal erinnert. Mit Fortschreiten der Arbeit erkannte ich, dass nicht nur Maia und ich durch diesen Film mit unseren eigenen Reflexionen konfrontiert wurden. Wenn THE VIEWING BOOTH sein Ziel erreicht, dann wird er auch seinen Zuschauer*innen und der nichtfiktionalen Tradition einen Spiegel vorhalten – einer Tradition, der ich mich zugehörig fühle. (Ra'anan Alexandrowicz)