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128 Min. Rumänisch.

In der rumänischen Stadt Botoşani tauchen 1981 mehrere mit Kreide und in Großbuchstaben geschriebene Parolen im öffentlichen Raum auf. Sie fordern Freiheit, verweisen auf die demokratische Entwicklung in Bruderländern oder fordern einfach nur eine bessere Versorgung mit Nahrungsmitteln. Geschrieben hat sie der Schüler Mugur Călinescu, dessen Fall in den Akten der rumänischen Geheimpolizei dokumentiert ist. Aus ihnen hat die Theaterregisseurin Gianina Cărbunariu ein Dokumentartheaterstück gemacht.
Neben einer Inszenierung des Stücks verwendet Radu Jude Archivaufnahmen aus dem rumänischen Fernsehen der Zeit. Aus dieser dialektischen Montage entsteht das Bild eines diktatorischen Überwachungsstaats, das die staatlich genehmigte Volksunterhaltung des Ceaușescu-Regimes zu dessen Entlarvung nutzt. So stehen Kochsendungen neben Verhören, Protokolle abgehörter Telefonate neben dem Ratschlag, lieber Sport zu treiben, als Beruhigungsmittel zu nehmen. Das zeigt nicht nur, welch großartige Funde man in Archiven machen kann, sondern auch, wie damit heute reflektiert und erkenntnisreich über das Gestern gesprochen werden kann, ohne in die Falle der Reinszenierung zu tappen. (ah)

Radu Jude wurde 1977 in Bukarest (Rumänien) geboren. 2003 schloss er sein Filmstudium an der Bukarester Media University ab. Während des Studiums sowie anschließend arbeitete er als Regieassistent. Neben mehreren Kurz- und Spielfilmen realisierte er mit Țara moartă 2017 seinen ersten Dokumentarfilm.

Wie die Securitate Jugendliche rekrutierte:
erst das Theaterstück, dann der Film

2011 habe ich einige Monate damit verbracht, die Akten des Nationalen Rats für das Studium der Archive der Securitate (Consiliul Național pentru Studierea Arhivelor Securității; CNSAS) durchzusehen, weil ich mich dafür interessierte, wie sie aufgebaut waren.  Außerdem wollte ich herausfinden, was dieser „Sammelroman“ von so vielen Autoren – Securitate-Offizieren und Mitarbeitern – heute bedeutet. Das Ergebnis war das Theaterstück „X mm von Y km“.
Vom Fall Mugur Călinescu erfuhr ich 2012 durch das Buch „Șase feluri de a muri“ („Sechs Arten zu sterben“) von Marius Oprea. Daraufhin wollte ich die Originalakte lesen. Zunächst interessierte mich vor allem das Phänomen der Rekrutierung von Gymnasiasten als Securitate-Mitarbeiter in den 1980er-Jahren, weil ich aus Gesprächen mit Experten in Rumänien und im Ausland gelernt hatte, dass es hier überraschend viele gab, während in anderen osteuropäischen Ländern die Rekrutierung von Minderjährigen eher die Ausnahme darstellte. Den Fall Mugur Călinescu wählte ich, weil seine Akte Hinweise auf dieses Phänomen enthielt. Ich fand interessant, dass selbst durch die hoch standardisierte Sprache der Akten etwas durchschien: Mugurs Geschichte ist die eines 16-Jährigen in einer Kleinstadt, der in einen Mechanismus gerät, der ihn nach und nach von Freunden und Familie abschneidet, und dem es selbst in seinen (offensichtlich durch Standardformeln eingeschränkten) Aussagen im Verhör immer noch gelingt, Anzeichen von freiem Denken zu zeigen – zu einer Zeit, in der die Menschen Angst vor ihren eigenen Gedanken hatten. (Gianina Cărbunariu)

Der Film: Ich habe Gianinas Theaterstück „Tipografic Majuscul“ im Jahr 2012 gesehen und erinnere mich daran, dass ich mit dem Schauspieler Șerban Pavlu darüber sprach, dass ein von diesem Fall inspirierter, auf dem Stück basierender Film niemals funktionieren würde. Wir beide dachten, ein solcher Film wäre nur ein weiterer auf der langen Liste antikommunistischer Filme – die zwar notwendig sind, aber meistens entweder übertrieben oder schlecht oder beides, trotz ihrer guten Absichten.
Trotzdem habe ich immer wieder an das Stück gedacht. Die Entscheidung, doch einen Film daraus zu machen, hängt vermutlich mit dem wachsenden Interesse an Archiven zusammen, das ich entwickelte, nachdem ich „Tipografic Majuscul“ gesehen hatte. Rückblickend stelle ich fest, dass das, was Gianina geschaffen hat, nicht nur ein Theatererfolg ist, sondern auch meinem persönlichen Interesse sehr nahekommt, Archivmaterial in meinen Filmen zu verwenden. Ich hatte genug von meinen eigenen Ideen und wollte einen Film machen, der eine echte Zusammenarbeit darstellt. Wenn dieser Film ganz anders aussieht als das, was ich bisher gemacht habe, dann liegt das auch an dieser Gemeinschaftsarbeit, an diesem besonderen Ausgangspunkt. (Radu Jude)

Der Umgang mit Archivmaterial

Die Proben verliefen ganz anders, als das bei Theaterstücken normalerweise üblich ist. Einen Monat lang habe ich mich durch die 200 Seiten der Akten gelesen und mit den Schauspielern diskutiert. Die Proben auf der Bühne dauerten dann nur etwa drei Wochen. Ich wollte, dass wir alle eine gemeinsame Sprache haben. Wir waren Künstler aus verschiedenen Generationen – einige von uns wurden im selben Jahr wie Mugur Călinescu geboren und kannten die damalige Realität, aber es gab auch andere wie mich, die 1989 erst zwölf Jahre alt waren, oder noch jüngere Kollegen, die zur Zeit der Revolution noch ganz klein waren. Unsere Erfahrungen waren also recht unterschiedlich.
Ich traf eine Auswahl aus dem vorhandenen Material, setzte eine chronologische Reihenfolge (denn die Dokumente in den Akten folgen nicht immer einem zeitlichen Ablauf) und erstellte anhand der umstrukturierten Texte eine Dramaturgie. Dabei stellte ich mir mögliche Situationen vor, in denen die Texte damals entstanden sind, wobei ich allerdings kein einziges Wort hinzufügte.
Wir waren nicht an einer getreuen Nachstellung des Falles und seiner Zeit oder an einem ‚Reenactment’ interessiert. Stattdessen geht es bei diesem Stück um den Versuch, die Grenzen von Dokumenten und von Theaterproduktionen zu erweitern: Kann man sagen, dass ein solches Dokument eine vertrauenswürdige ‚Spur’ ist? Wer ist der Autor eines solchen ‚dramatischen’ Textes: diejenigen, die die Aussagen gemacht haben, diejenigen, die sie angefordert haben, diejenigen, die die aufgezeichneten Gespräche transkribiert haben, das Unterdrückungssystem Securitate oder wir, die wir das alles mit den Mitteln des Theaters ‚umschreiben’? (Gianina Cărbunariu)

Ich habe Gianinas Ideen und Fragen für den Film behalten und ein wenig Zusatzmaterial aus der besagten Akte hinzugefügt. Das Fernseh-Archivmaterial, das die Erzählung aufbricht, habe ich nach chronologischen Gesichtspunkten ausgewählt. Mit anderen Worten: Ich habe nach Material gesucht, das vom rumänischen Fernsehen zu der Zeit ausgestrahlt wurde, als sich die Geschichte von Mugur Călinescu abspielte. Nur zwei- oder dreimal habe ich auf dieses Prinzip verzichtet – im nationalen Fernseharchiv (wo das Material nicht perfekt katalogisiert ist) stieß ich auf Dinge, die so gut, so zugespitzt waren, dass ich sie in den Film mit aufnahm. Schließlich gehören sie in jene Zeit, sind selbst schon Geschichte – übriggebliebene Spuren. (Radu Jude)

Montage statt Collage

Gianina verwendete in ihrem Stück eine Securitate-Akte, wählte Fragmente davon aus und fertigte eine Collage an. Indem sie die Dokumente zusammensetzte (und sie hier und da dramatisierte), schuf sie eine Geschichte, eine kohärente Erzählkonstruktion. Natürlich kann diese Erzählung in vielerlei Hinsicht infrage gestellt werden – und ich glaube, dass dies von Historikern, Theaterkritikern und so weiter bereits getan wurde oder getan werden sollte.
Über Gianinas Ansatz hinaus (oder besser gesagt: anders als sie) ersetzte ich im Film diese Collage durch eine Montage.
Ich verwende das Wort ‚Montage‘ in der Bedeutung, die es für Sergej Eisenstein hatte. Die Grundidee besteht darin, dass die Verbindung zweier Bilder durch Montage ein drittes erzeugen kann, das im Kopf des Betrachters entsteht und dessen Bedeutung sich aus der Gegenüberstellung der beiden Bilder ergibt. Dieses dritte Bild ist in keinem der beiden anderen Bilder vorhanden, sondern entsteht erst durch ihre Verbindung.
Eisenstein bezog sich natürlich auf das Kino, aber im Grunde befinden wir uns derzeit im goldenen Zeitalter der Montage: Wer ein Meme im Internet sieht, sieht in Wirklichkeit meistens eine Variante der Eisensteinschen Montage. (Um ein Beispiel herauszugreifen: das dumme Meme, in dem ein Foto des rumänischen Präsidenten Klaus Iohannis neben ein Bild von Hitler gestellt wird, wodurch die Idee entsteht, dass Iohannis ein Nazi sei. Diese Idee ist in keinem der beiden Bilder vorhanden und entsteht nur, wenn sie zusammengefügt werden).
Das war mehr oder weniger das, was ich versucht habe: Gianinas Geschichte – ihre Collage – systematisch aufzubrechen und in ein Montagewerk zu verwandeln, in dem jedes Bild mit einem anderen kollidiert und die daraus entstehende Verbindung im Publikum neue Vorstellungen erzeugt.
Natürlich sind Bedeutungen nicht so leicht zu finden wie in Internet-Memes. Ich würde sagen, es handelt sich hierbei im Wesentlichen um einen poetischen Ansatz, wenn wir Poesie so verstehen, wie Malraux sie beschrieben hat: „Jede wahre Poesie ist zweifellos irrational, da sie die ‚etablierten’ Beziehungen zwischen den Dingen durch ein neues Beziehungssystem ersetzt.“ Ich glaube, die Montage ist nicht nur eine Art der Poetisierung, sondern eine sehr ernstzunehmende Art, Geschichte zu verstehen und zu konstruieren (die allerdings mit Vorsicht eingesetzt werden sollte, da sie leicht zu Fälschungen oder Propaganda verschiedener Art führen kann).
Davon abgesehen hat dieses Verfahren den Film meiner Meinung nach sehr zugänglich und unterhaltsam gemacht: Er erzählt nicht nur die Geschichte von Mugur Călinescu, wie sie von Gianina aus seiner Securitate-Akte zusammengestellt wurde, sondern zusätzlich Hunderte weiterer kleiner Geschichten. (Radu Jude)

Die Arbeit der und des Anderen

Der Film stellt einige zusätzliche Fragen, weil er eine eigene Sprache verwendet. Er benutzt andere künstlerische Instrumente, die spezifisch für das Kino im Allgemeinen und für Radu Jude als Regisseur im Besonderen sind. Es handelt sich nicht um einen Film über eine ‚Geschichte‘; der Film ‚sprengt‘ die Geschichte, indem er Archivmaterial verwendet, das vielfältiger ist als das des Theaterstücks. Die Auswahl und Verwendung von visuellen Referenzen aus dem Archiv des rumänischen Fernsehens, zusammen mit Mikroszenen aus den Akten und Aussagen ehemaliger Securitate-Offiziere erzeugt mehrere Bedeutungsebenen. Diese Schichten werfen Fragen zu den sichtbaren und unsichtbaren Teilen der Gesellschaft auf, zur Ambiguität von Archiven, und zu den Gefühlen von Nostalgie und Anti-Nostalgie, die wir manchmal gleichzeitig erleben. (Gianina Cărbunariu)

Ich bewundere Gianina Cărbunariu nicht nur wegen der Themen, die sie auswählt, sondern auch wegen der Art, wie sie sie inszeniert. Ich gehöre zu den Zuschauern, die sich auch mit der Form von Theaterstücken beschäftigen, und Gianina hat formale Ideen, die ich sehr interessant finde. Es gibt einen Moment in „Tipografic Majuscul“, den ich im Film nachstellen wollte, der aber nicht so kraftvoll und amüsant gewesen wäre wie im Theaterstück: der Moment, in dem die Figuren – allesamt Lehrer, die an einem Treffen zum Gedenken an Mugur Călinescu teilnehmen – demütig auf die Knie gehen, um ihre Meinung in ein auf dem Boden platziertes Mikrofon zu sprechen; das ist ein rein theatralischer Moment. Genau diese Momente machen das ganze Stück sehenswert. (Radu Jude)

(microFILM)

Produktion Ada Solomon. Produktionsfirma microFilm (Bukarest, Rumänien). Regie Radu Jude. Buch Radu Jude, Gianina Cărbunariu. Kamera Marius Panduru. Montage Cătălin Cristuțiu. Sound Design Dana Bunescu. Ton Jean Umansky. Production Design Irina Moscu. Kostüm Dorin Negrău. Maske Bianca Boeroiu. Casting Liliana Toma. Regieassistenz Cristina Iliescu. Production Manager Vlad Gilga. Ausführende*r Produzent*in Carla Fotea. Co-Produktion Romanian Public Television, Hi Film Productions. Mit Bogdan Zamfir, Şerban Lazarovici (Mugur Călinescu), Ioana Iacob (Die Mutter), Şerban Pavlu (Der Vater).

Weltvertrieb Best Friend Forever

Filme

2006: Lampa cu caciula / The Tube with a Hat (25 Min.). 2009: Cea mai fericită fată din lume / The Happiest Girl in the World (100 Min., Forum 2009). 2011: Film pentru prieteni / A Film for Friends (58 Min.). 2012: Toată lumea din familia noastra / Everybody in Our Family (107 Min., Forum 2012). 2015: Aferim! (108 Min., Wettbewerb 2015). 2016: Inimi cicatrizate / Scarred Hearts – Vernarbte Herzen / Scarred Hearts (141 Min.). 2017: Țara moartă / Die tote Nation / The Dead Nation (83 Min.). 2018: Îmi este indiferent dacă în istorie vom intra ca barbari / Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen / I Do Not Care If We Go Down in History as Barbarians (140 Min.).

Foto: © Silviu Ghetie

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