Direkt zum Seiteninhalt springen

77 Min. Französisch, Dioula.

Der Ivorer Inza hat einen langen Weg hinter sich, von der Elfenbeinküste nach Libyen über das Mittelmeer nach Italien. Dort sitzt er nun mit seiner Freundin, deren Kind und weiteren Flüchtlingen und versucht, mit dem Zug oder zu Fuß über die Berge nach Frankreich zu kommen, wo ein Freund wie auch eine andere Frau auf ihn warten. Joël Richmond Mathieu Akafou ist sehr nah dran an seinem Protagonisten, begleitet ihn auf Schritt und Tritt, bei organisatorischen Telefonaten, beim Fußballschauen, beim Telefonieren mit der daheimgebliebenen Familie. Die Abstraktion von Konzepten wie Drittstaatenregelung, Ausgangssperre und Aufenthaltsstatus bekommt hier ein sehr konkretes, persönliches Spiegelbild vorgehalten: im Festsitzen und immer wieder Anlaufnehmen, in der Zerrissenheit des Drangs nach Zukunft und dem Eingebundensein in die Vergangenheit, in den Gesprächen über Flucht, Identität und Fragen der Zugehörigkeit. Dabei stilisiert Traverser den Kampf Inzas nicht, vielmehr beobachtet der Film ihn in einem Leben, das sich zwischen Frauengeschichten, dem Versuch der Flucht und den Regelungen europäischen Asylrechts aufreibt und nie wirklich zur Ruhe findet. (ab)

Joël Akafou wurde 1986 in Bouaké (Republik Côte d’Ivoire) geboren. Er absolvierte ein Masterstudium am Institut Supérieur de l'Image et du Son (ISIS) in Ouagadougou, Burkina Faso. Anschließend studierte er am Institut National Supérieur des Arts et de l'Action Culturelle (INSAAC) in Abidjan, wo er von 2008 bis 2011 den Vorsitz der CEAA (Coordination des Étudiants Artistes Africains) übernahm. After the Crossing ist Akafous erster abendfüllender Film.

Europa, das düstere Eldorado

TRAVERSER ist die Geschichte eines jungen Ivorers, der Bourgeois genannt wird. Er hat die Fahrt über das Mittelmeer überlebt und ist nun in Italien. Er kann nicht zwei oder drei Jahre warten, um dann vor eine Kommission zu treten, die ihm den Flüchtlingsstatus wahrscheinlich nicht geben wird. Also träumt er davon, nach Frankreich zu gehen und ist bereit, alles zu tun, um dorthin zu gelangen.
Es ist der zweite Dokumentarfilm, den ich mache, in dem Bourgeois im Mittelpunkt steht. In meinem ersten Film, VIVRE RICHE, filmte ich eine Gruppe junger Männer, die per Onlinedating europäische Frauen betrogen. In meinem Land, der Elfenbeinküste, nennen wir das ‚abgrasen‘. Einer der vier war Bourgeois. Früher konnten sie von diesen Online-Betrügereien und ein paar anderen kleinen Jobs leben. Aber ‚abgrasen‘ ist schwieriger geworden. Bourgeois beschloss, nach Europa zu gehen und die gefährliche Reise durch die Wüste, durch Libyen und über das Meer zu riskieren. Um ihm zu helfen, gab seine Mutter ihm ihre gesamten Ersparnisse.
Im November 2016 war ich in Frankreich, als Bourgeois mir schrieb, dass er in Libyen im Gefängnis sitze. Er bat mich, die Kaution für ihn zu bezahlen. Ich stimmte unter der Bedingung zu, dass er zurück nach Hause reisen würde. Er erwiderte darauf: „Ich würde lieber im Meer bei dem Versuch, meine Mutter glücklich zu machen, als erfolglos vor ihren Augen sterben.“
Ich fand Bourgeois auf den Straßen Turins wieder, wo er gerade überlegte, ob er auf dem Weg der Legalität bleiben (das heißt in einer Sammelunterkunft leben und auf die Asylkommission warten) oder die Alpen überqueren sollte. Er entschloss sich, das Camp zu verlassen und eine Möglichkeit zu suchen, um über die Grenze zu kommen, ohne von der Polizei erwischt zu werden. So begann die Arbeit an TRAVERSER.
Ich wollte einen Film machen für diejenigen in meiner Generation, die denken, sie finden auf der anderen Seite des Mittelmeers eine bessere Zukunft. Aber ich wollte auch einen Film für westliche Zuschauer*innen machen, die mit diesen Migrationsströmen leben. Das Eldorado, von dem Bourgeois träumt, ist düsterer, als er es sich vorstellt.
Mit TRAVERSER wollte ich eine starke und zugleich ambivalente Figur zeigen, die den Begriff ‚Würde‘ ins Zentrum ihrer Reise gestellt hat (die Würde, die er gegenüber seiner Mutter verlieren könnte, falls er es nicht schafft, ihr Geld zu schicken). Bourgeois ist jemand, der komplizierte Beziehungen zu Frauen hat, der aber auch wichtige Aspekte der Nord-Süd-Beziehungen verkörpert. Er und seine Freunde führen uns ganz nah heran an das versteckte Leben von Migranten in europäischen Städten, an ihre Gefühle gegenüber kolonialen und neokolonialen Strukturen und an die Alpträume, die sie in Libyen und auf den Booten erlebt haben. (Joël Akafou)

Interview mit Joël Akafou: „Nicht jeder Filmemacher kann so tief in das Leben dieser Protagonisten eintauchen“

Wie hast du den Protagonisten von TRAVERSER kennengelernt?

Ich habe Toure Inza Junior, der Bourgeois genannt wird, getroffen, als ich meinen ersten Dokumentarfilm VIVRE RICHE gedreht habe. Mit diesem Film versuchte ich, das Leben der jungen ‚brouteurs‘, der ‚Abgraser‘ in Abidjan zu verstehen.

Wie kam es, dass du Bourgeois nach VIVRE RICHE weiter gefilmt hast?

Einige Monate, nachdem ich den Schnitt des Films fertig gestellt hatte, beschloss Bourgeois, Abidjan zu verlassen und durch die Wüste und über das Meer nach Frankreich aufzubrechen. Ich war mit ihm und seinen Freunden sehr vertraut, sie alle waren wie Brüder für mich. Es war schwierig für mich, zu wissen, dass er sein Leben riskieren wollte, um seine Familie zu retten – wenn er es nach Europa schaffen und einen Job finden würde, um seinen Angehörigen Geld zu schicken. Also beschloss ich, einen weiteren Film über ihn zu drehen.

Du hast mit einer sehr kleinen Crew gearbeitet. Warum?

Ich bin in das Leben meiner Protagonisten eingetaucht und habe beobachtend, im Stil des Direct Cinema gefilmt, denn so konnte ich ihr Leben in Italien, das sie ja nicht gewählt hatten, und all die Hürden und die Ernüchterung, die damit verbunden waren, einfangen. Nach unserer gemeinsamen Erfahrung mit dem ersten Film waren wir gewissermaßen Freunde geworden. Die kleine Crew machte es möglich, nicht zu sehr in das Privatleben meiner Protagonisten einzudringen und nicht zu aufdringlich zu werden. In gewisser Weise hat es mir bei dem Versuch, ihre Realität auf die Leinwand zu transformieren, auch der Umstand geholfen, dass ich ihre Sprache spreche und verstehe, wie sie sich verhalten. Ohne viele Filter.

Während der Dreharbeiten formierte sich eine neue Regierung in Italien, und die Lega Nord des politisch weit rechts stehenden Matteo Salvini kam an die Macht. Hat das deine Arbeit beeinflusst?

Ja. Bourgeois wurde bewusst, dass er keine Wahl hatte und gehen musste, auch, wenn er das nicht so deutlich ausgedrückt hat. Der allgemeine Druck wuchs. Ich wurde während des Drehs angegriffen, und ich wurde von italienischen Sicherheitsbeamten verhaftet, die mein Material sehen wollten.

Warum ist es für dich, einen Filmemacher von der Elfenbeinküste, wichtig, deine Arbeit in Europa zu zeigen?

Mein Blick auf die Migration zeigt die falschen Vorstellungen dieser jungen afrikanischen Männer. Ich habe versucht zu zeigen, wie schwierig es für sie war, diese Reise zu unternehmen, die von Tod, Einsamkeit und Frustration geprägt ist. Für diejenigen von ihnen, die es schaffen, an Europas Küsten zu landen, ist es dann schmerzhaft zu erkennen, wie trügerisch ihr Bild vom Eldorado wirklich war. Es tut mir weh, daran zu denken, dass ihre Heimatländer in Afrika ihnen nichts Besseres bieten können.

Welche Rolle kann dein Film für ein europäisches Publikum spielen?

Nicht jeder Filmemacher kann so tief in das Leben dieser Protagonisten eintauchen. Ich glaube, ich konnte dadurch Teile ihres wahren Lebens einfangen. Einem europäischen Publikum ihre Gesichter zu zeigen, kann Diskussionen darüber befördern, welchen Einfluss der Westen auf diesen Konflikt hat.

In deinem Film gibt es einen starken Moment, in dem die Protagonisten sich an ihren Aufenthalt in Libyen erinnern. Wie haben dich diese Unterhaltungen beeinflusst?

Bis heute denke ich daran, was für eine Hölle das für sie gewesen sein muss. Mir ist im Kopf geblieben, wie sehr sie versuchen, über diese Ereignisse zu lachen, um dem tiefen Trauma zu entkommen, mit dem sie leben.

(VraiVrai Films)

Produktion Faissol Gnonlonfin, Florent Coulon. Produktionsfirma VraiVrai Films (Saintes, Frankreich). Regie, Buch Joël Richmond Mathieu Akafou. Kamera Joël Richmond Mathieu Akafou, Mateo Tortone. Montage Jeanne Oberson. Sound Design Ivan Broussegoutte. Ton Joël Richmond Mathieu Akafou, Corneille Houssou. Regieassistenz Laurent Bitty. Production Manager Faissol Gnonlonfin. Ausführende*r Produzent*in Faissol Gnonlonfin. Co-Produzent*innen Berni Goldblat, Quentin Noirfalisse. Co-Produktion Les Films du Djabadjah, Dancing Dog Productions. Mit Inza Junior Touré (Bourgeois), Kader Keita, Michelle Bawa, Loulou Bawa, Assamoi, Papys, André, Amara, Chanella, Binta Touré (Bourgeois' Mutter).

Filme

2012: Bia n’de (13 Min.). 2015: Zara (7 Min.). 2016: Nourah (26 Min.). 2017: Vivre riche (53 Min.).

Foto: © VraiVrai Films, Les Films Du Djabadjah, Dancing Dog

Gefördert durch:

  • Logo des BKM (Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien)
  • Logo des Programms NeuStart Kultur