Goldsucher, Glücksritter, Gestrandete
Alles begann mit einer Anekdote, einer Geschichte, die wir irgendwo aufgeschnappt hatten. Sie handelte von einer Wüstenstadt, California City, die ihr Versprechen, Kaliforniens drittgrößte Stadt zu werden, (noch) nicht erfüllt hatte. Unsere Neugier führte uns schließlich gemeinsam an diesen unvollendeten Ort, an den wir im Verlauf von vier Jahren in regelmäßigen Abständen zurückkehren sollten. Auf der Suche nach einer Idee für unseren Film wurden wir hier immer wieder fündig. Wir trafen auf zahlreiche Menschen, die in California City gestrandet waren. Auf Menschen, die einen Neuanfang wagten, auf Goldsucher und auf Glücksritter.
Dabei lief uns zufällig auch Lashay über den Weg, oder besser gesagt, wir liefen ihm über den Weg, und wir verstanden uns auf Anhieb. Trotz unserer unterschiedlichen Herkunft brachte uns der Ort, an dem wir uns kennenlernten, zusammen, und es entstand eine Verbindung. Durch die gemeinsam dort verbrachte Zeit wuchsen unsere Begeisterung sowie unsere gegenseitige Faszination und Empathie, und es entstand der dringende Wunsch, gemeinsam einen Film zu drehen.
Vergiss die Vergangenheit, erfinde dich neu
Lashay erzählte uns von seiner gewalttätigen Vergangenheit, die er nur schwer hinter sich lassen konnte, von seinem neuen Leben in California City und von seinen Zukunftsträumen. Er berichtete davon, wie es sich anfühlt, als junger schwarzer Mann in Amerika aufzuwachsen. Und wie schwer es ist, sich aus einer vorbestimmten und stark eingeschränkten sozioökonomischen Realität zu befreien. Wir lernten Lashays fröhliches Wesen und sein enormes kreatives Potenzial kennen. Wie er es versteht, die oftmals enttäuschende Realität mit einer Prise Fiktion aufzuhellen. Wie er sich seiner Identität auf kreative Weise nähert, indem er sich unentwegt ein anderes Selbst und eine andere Zukunft ausmalt.
Dieses Konzept, sich selbst neu zu erfinden, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und einen Neuanfang an einem anderen Ort zu wagen, entspricht einem alten Muster, das charakteristisch für den Westen der Vereinigten Staaten ist. Insbesondere für Kalifornien, das seit den Tagen der Pioniere mit seinen Wüstenlandschaften eine (scheinbar) leere Leinwand bot, auf der unentwegt neue Geschichten skizziert werden konnten. Vergiss die Vergangenheit, erfinde dich neu. Wie in einer Fiktion.
California City ist ein solcher Ort, der die Fantasie anregt mit seinem Labyrinth aus verfallenen Straßen irgendwo zwischen Wildnis und Zivilisation. Ein Ort, der dazu einlädt, eine neue Geschichte zu erfinden.
Dort entstand unsere Idee zu VICTORIA, einem Film, in dem Lashays Realität und Fantasie und unsere eigene Fantasie ganz ungezwungen aufeinandertreffen konnten.
Wir beobachteten Lashay dabei, wie er California City zu Fuß erkundete und auf diese Weise seine Freiheit zum Ausdruck brachte. Lashay macht sich nichts aus vorgegebenen Pfaden und Begrenzungen. Er sucht sich seinen eigenen Weg und entscheidet selbst, wohin er geht und wie er sich dort hinbewegt. Dies inspirierte uns dazu, sein Laufen als Wandern zu betrachten, das sich zu einem Herzstück unseres Films entwickeln sollte. Lashay tritt darin als zeitgenössischer Pionier auf, der sich „immer auf dem Weg zu etwas Besserem“ befindet. Wir baten ihn, Tagebuch über sein neues Leben in seiner neuen Heimat zu führen. Nach unserer Vorstellung sollte dieses Tagebuch später einmal gefunden und gelesen werden, wie die Tagebücher der frühen Pioniere. Auf diese Weise gewinnen seine Person und seine Worte an Gewicht. Sie werden zu wertvollen Zeugnissen aus einem bedeutsamen Zeitabschnitt der Geschichte, und er selbst wird Teil dieser Geschichte.
Mit jedem Schritt hinterlässt Lashay seine Spuren, schreibt sich in die Landschaft ein und macht sie sich zu eigen. Er gehört zu dieser neuen Welt, und diese neue Welt gehört zu ihm. (Sofie Benoot, Liesbeth De Ceulaer, Isabelle Tollenaere)