Direkt zum Seiteninhalt springen

86 Min. Portugiesisch.

Ein Salon, lachsfarbene Wände, Tapisserien, Büsten, Zimmerpflanzen, eine Kleiderpuppe. Auf einem Samtsessel mit goldenen Leisten hat die Protagonistin Platz genommen, sie stellt sich als Wilma Azevedo vor, 74, „Königin der sadomasochistischen Literatur Brasiliens“. Sie wird vom Regisseur gebeten, ihre Lebensgeschichte zu erzählen, die sich schnell in eine detailreiche Abfolge erotischer Anekdoten verästelt, es geht um grüne Bananen, Dildos aus Sandpapier und überstimulierte Nerven. Zu ihrer besten Zeit erhielt sie jeden Monat 300 Liebesbriefe, eine sagenhafte Erfolgsgeschichte. Manchmal setzt die Erinnerung aus, dann hilft ihr eine junge Schauspielerin im Bildhintergrund auf die Sprünge, die Azevedo in einem kommenden Spielfilm verkörpern soll. Zur Hälfte des Films, der sich als Recherche ausgibt, wird der Sessel leicht verrückt und die Protagonistin erzählt eine andere Lebensgeschichte, die ähnliche pornografische Narrative verwendet, aber auch von der schwierigen Emanzipationsgeschichte einer Journalistin erzählt, die sich auf dem gefährlichen Terrain männlicher Fantasien bewegt. In starren Einstellungen auf eine bewegliche Figur entsteht ein Stillleben erzählter Leidenschaften. (jk)

Gustavo Vinagre wurde 1985 in Rio de Janeiro (Brasilien) geboren. Er absolvierte ein Studium der Literaturwissenschaft an der Universidade de São Paulo und studierte anschließend im Bereich Drehbuch an der Escuela Internacional de Cine y TV (EICTV) in San Antonio de los Baños (Kuba). Mit seinem zweiten abendfüllenden Film A rosa azul de Novalis war Vinagre 2019 im Berlinale Forum vertreten.

Im Unbewussten ist alles gegenwärtig

VIL, MÁ – der portugiesische Filmtitel bedeutet „schlecht, böse“, und so lautet auch der Name der Hauptfigur: Wilma. Ausgehend von diesem Titel wollte ich mit der Idee spielen, dass es in meinem Film um eine gespaltene Persönlichkeit geht und der Film ebenfalls in zwei Teile gespalten ist, die einander reflektieren. Allerdings fügen sich diese beiden Teile zu einer einzigen Persönlichkeit und zu einem einzigen Film zusammen. Aus diesem Grund habe ich für beide dieselbe Ästhetik gewählt, womit ich unter anderem auch ihre Gemeinsamkeiten hervorheben wollte – und die Tatsache, dass wir von außen betrachtet alle gleich aussehen können, obwohl wir in unserem Inneren eine Domina oder eine fürsorgliche Mutter zugleich sind.
Die Figur hat den Namen Wilma als Pseudonym für ihre Arbeit als Autorin von erotischer Literatur gewählt. Ihr Geburtsname Edivina bedeutet dagegen „die Göttliche“ und verweist auch auf ihre strenge religiöse Erziehung.
Aus meiner Sicht geht es in diesem Film um Sexualität und literarisches Schaffen. VIL, MÁ soll zwei mögliche Frauenbilder spiegeln, die von einer Person verkörpert werden. Aus diesem Grund kommt auch der Sprache eine besondere Bedeutung zu. Im ersten Teil sehen wir Wilma als starke und furchtlose Frau, die sich für nichts schämt und alles über Sex lernen und darüber schreiben will. Im zweiten Teil muss Edivina sich nach einer zerbrochenen Ehe neu erfinden und emanzipieren, um ihre Kinder ernähren und ihren Sehnsüchten folgen zu können. Die beiden Teile gehen ineinander über, da Edivina einerseits Handelnde ist, sich aber anderseits durch Wilma verändert. Und Wilma ist nicht nur eine Person, sondern auch eine Maske, die es Edivina ermöglicht, ihre Wünsche in die Tat umzusetzen.

Eine „Trilogie des Selbst“
Ist Wilma tatsächlich nur Fiktion, nur ein Pseudonym? Die Grenzen sind fließend, und meines Erachtens kann in einem kreativen Geist alles wahr sein. In dieser Geschichte werden sämtliche Aspekte miteinander vermischt: die Erzählungen der Protagonistin, die Erinnerungen an ihre Erzählungen, die Wirklichkeit, die sie in ihren Erzählungen verarbeitet, um ihre Sehnsüchte vor der Gesellschaft oder auch vor sich selbst zu verbergen; ihre Wirklichkeit, ihre Erinnerungen an ihre Wirklichkeit, und die Fantasien, die sie aus ihrer eigenen Wirklichkeit entwickelt hat, um sie fröhlicher oder erträglicher erscheinen zu lassen.
VIL, MÁ wurde 2013 gedreht, aber erst 2020 konnte ich den Film fertigstellen. Für mich sagt das viel darüber aus, wie viel Zeit ich benötige, um die Vielschichtigkeit einer Seele zu erfassen, die sich ein Leben in anderen Zeiten und mit anderen Überzeugungen erlaubt. Ich musste zwei weitere Filme mit einer einzigen Figur drehen, I REMEMBER THE CROWS (2018) und THE BLUE ROSE OF NOVALIS (2019), um endlich diese „Trilogie des Selbst“ vollenden zu können – und zwar an genau der Stelle, an der sie auch begann.
Für mich ist Kreativität das vollständige Verschmelzen von Realität und Fiktion. Nach Auffassung von Jung kennt das Unbewusste keine Zeit, weil alles gegenwärtig ist. Deshalb frage ich mich, ob die Archivbilder und die Stimme einer weiteren Frau, die mit dem Rücken zu uns sitzt (Wanda, das jüngere Alter Ego von Wilma) und uns ihre Kurzgeschichten und Adaptationen der Briefe ihrer Leser vorliest, nicht wie Bilder und Klänge aus einem Traum anmuten. Ist die Vergangenheit nicht eine Kreation, auf die wir, wie bei einem Traum, in unseren Erinnerungen zugreifen können? Es existiert nur das, was Wilma/Edivina uns in der Gegenwart auf diesem Stuhl sitzend erzählt …
Die Figur der Wanda (so heißt eine Person in Masochs „Venus im Pelz“) ist eine Schauspielerin, die das Leben von Wilma/Edivina für einen künftigen Film beobachten soll, den wir niemals zu sehen bekommen. Der Film, den wir sehen, stellt sowohl den künftigen als auch den vergangenen Film dar, weil es auch hier keinen Zeitbegriff gibt. Das Wohnzimmer, in dem Wilma/Edivina sitzt, steht wiederum für das unbewusste Selbst. Wanda tritt als Vergegenwärtigung von Wilma/Edivina in der Vergangenheit auf und wird als ‚Sklavin‘ in den Dienst der Gegenwart gestellt. Die Rückblicke in die Vergangenheit richten sich nach dem, was Wilma/Edivina in ihrer Gegenwart zeigen will. Auch hier sind die Erinnerungen nachgestellt ... Wilma und Edivina sind die Meisterinnen, die sich häufig in Widersprüche verstricken. Doch Erinnerungen können, wie rebellische Sexsklav*innen, bisweilen trügerisch sein.

Das geistige Archiv: Wünsche, Träume, Kreativität
Meine größte Inspiration für einen Dokumentarfilm konnte ich genau daraus ziehen: Ich wollte das geistige Archiv einer Figur – ihre Träume, Wünsche, Fetische, Sehnsüchte und kreativen Gedanken – in den Mittelpunkt eines Films stellen. Doch in VIL, MÁ spielt auch das physische Archiv – in diesem Fall sind es Fotografien – eine Rolle. Im ersten Teil des Films geht es um das Archiv einer Geschichte, die normalerweise nicht erzählt oder dokumentiert wird: Sie handelt vom Sexleben einer Frau, die im Jahr 2020 ihren 80. Geburtstag feiert, und von ihren Veröffentlichungen als Verfasserin erotischer Literatur. Im zweiten Teil bekommen wir das ‚offizielle‘ Archiv zu sehen: Bilder von ihrer Familie, ihrer Karriere und ihre Veröffentlichungen als Journalistin.
Wilma/Edivina ist eine Frau, deren Geschichte in einem konservativen Land wie Brasilien, das bei der Zahl der Morde an Frauen weltweit den fünften Platz belegt, erzählt werden muss. Die damit verbundene Gewalt geht von Männern aus, die diesen Frauen eine Lektion erteilen und ihnen vorschreiben wollen, wie sie mit ihren Körpern umgehen sollen. Die Geschichten einer Dame dieses Alters, die ihre Sexualität genießt und frei auslebt und diejenige ist, die Männern (in diesem Fall einvernehmlich) Gewalt antut, fügen sich ungeachtet der Widersprüche, die ein solch komplexer Charakter wie der ihre mit sich bringt, zu einem inspirierenden Porträt einer starken Frau.
Meines Erachtens ist ein solcher Film über eine religiöse und zugleich sinnliche Frau, die dem Alter nach die Mutter eines faschistischen Präsidenten sein könnte, ein Statement dafür, dass unser Leben deutlich vielschichtiger ist, als es uns unsere Regierung glauben machen will. Das Böse und das Göttliche können, wie auch Glaube und Sexualität, Hand in Hand gehen. (Gustavo Vinagre)

Produktion Gustavo Vinagre, Rodrigo Carneiro, Max Eluard. Produktionsfirmen Carneiro Verde Filmes (São Paulo, Brasilien), Avoa Filmes (São Paulo, Brasilien). Regie, Buch Gustavo Vinagre. Kamera Thais Taverna. Montage Gabriel Pessoto. Sound Design Victor Jaramillo. Ton Jonathan Macías. Production Design Fernando Zuccolotto. Kostüm Fernando Zuccolotto. Maske Fernando Zuccolotto. Production Manager Carlos Barbosa. Ausführende Produzent*innen Max Eluard, Gustavo Vinagre. Mit Edivina Ribeiro (Wilma), Wilma Azevedo (Edivina), Jules Elting (Wanda).

Filme

2012: Filme para poeta cego / Film for Blind Poet (27 Min.). 2013: La llamada / The Call (19 Min.), Nova Dubai (50 Min.). 2014: Mãos que curam / Healing Hands (19 Min.). 2015: Chutes / Kicks (24 Min.). 2016: Os cuidados que se com o cuidado que os outros devem ter consigo mesmos / The Cares One Takes of the Care Others Must Take of Themselves (21 Min.). 2017: Filme-catástrofe / Disaster Film (18 Min.), Cachorro / Bitch (14 Min.), Medo medo medo / Fear Fear Fear (20 Min.). 2018: Lembro mais dos corvos / I Remember the Crows (82 Min.). 2019: A rosa azul de Novalis / The Blue Flower of Novalis.

Foto: © Gustavo Vinagre

Gefördert durch:

  • Logo des BKM (Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien)
  • Logo des Programms NeuStart Kultur