Ein berühmtes griechisches Fresko aus dem frühen 5. Jahrhundert v. u. Z. zeigt einen Mann, der in ein Gewässer eintaucht. Die Abbildung ist rudimentär und fast abstrakt: Man sieht den nackten Körper des Tauchers, der wie ein Apostroph gestreckt im Zentrum des Bilds in der Luft hängt. Unterhalb von ihm die Kammlinie blauer Wellen, leicht gewölbt. Ein schematischer Baum am linken Bildrand und eine an ein Trampolin gemahnende Struktur am rechten. Das Fresko wurde in den späten 1970er-Jahren in einem Grab einer kleinen Nekropole in der Nähe der antiken griechischen Stadt Paestum in Süditalien entdeckt. Die meisten Archäolog*innen und Wissenschaftler*innen, die es untersuchten, sind sich derzeit über die symbolische Bedeutung der Szene einig: Der Mann taucht ins Jenseits ein, er verlässt das Festland des menschlichen Wissens und wirft sich ins tiefe, flüssige und unbegreifliche Unbekannte.
Diese ungewöhnliche Dekoration, die versucht, die Bedeutung eines Mysteriums einzufangen, das in Worten nur schwer auszudrücken war, hat mich immer fasziniert. Tatsächlich repräsentierte der Tod in vielen antiken Zivilisationen kein Ende, sondern eine rätselhafte Grenze, die Menschen übertreten mussten, um Zugang zu einer anderen Dimension zu erlangen. Dieser Übergang fühlte sich eher wie ein Fortdauern an, als wie ein Bruch. Denn die Existenz im Jenseits war als Fortsetzung des irdischen Lebens gedacht, das gerade zu Ende gegangen war. Aus eben diesem Grund musste jede Person eine Grundausstattung ihrer Besitztümer und andere Alltagsgegenstände mitbringen.
Ein antikes Stück faliskischer Keramik, das ursprünglich für den Gebrauch im Jenseits intendiert war, war der Ausgangspunkt von Jonna Kinas kreativem Prozess, an dessen Ende die Produktion zweier Filme stand: AFTER LIFE und RED IMPASTO JAR, die sie als Diptychon konzipiert hat. Sie sah das Objekt zufällig in einem kleinen Museum, das sie Ende 2017 während einer Künstler*innenresidenz im Norden der Region Lazio besuchte und war tief beeindruckt. Das aus dem 6. Jahrhundert v. u. Z. stammende Stück ist stark beschädigt, da es vor seiner Bergung und der Aufnahme in die Museumssammlung aus seinem Grab geraubt und in der Folge – vermutlich als Dekorationselement – in die Wand eines Hauses einzementiert worden war. Kina gefiel der kuriose Status der Keramik. Sie schien eine Vielzahl von Geschichten über die irdische Existenz und das Jenseits, über das Vergehen der Zeit und unser Verhältnis zu vergangenen Kulturen, über Entweihung, das Heilige und die Aura von (Kunst-)Objekten in sich zu tragen und zu erzählen. Es sind diese Geschichten, die auch in den beiden Videoarbeiten erforscht und erweitert werden, die die Künstlerin nach einer langen Phase des Nachdenkens und der Recherche im Herbst 2020 drehte.
Objekte erwidern unseren Blick. Sie haben ein Eigenleben.
RED IMPASTO JAR ist ein schnörkelloses filmisches Porträt der Keramik. In einer ungeschnittenen Kameraeinstellung wird die Wandelbarkeit von deren Form und Essenz präsentiert und herausgearbeitet. Das Gefäß vollführt auf der rotierenden Plattform eines robusten Industriemotors vor den Augen des Publikums eine langsame und präzise Choreografie: Vor einem neutralen, einfarbigen Hintergrund dreht es sich 360 Grad um die eigene Achse. Im Laufe der Rotation beginnt seine Form sich aufzulösen. Eine zerrissene Rückseite wird enthüllt, die wie ein verwundeter Körper wirkt. Als ich diese Sequenz, deren Ton zugleich sanft und scharf ist, zum ersten Mal sah, erinnerte sie mich an einen Satz von Jonna Kina, den sie mir gegenüber einige Jahre zuvor in einem Interview geäußert hatte: „Objekte erwidern unseren Blick. Sie haben ein Eigenleben.“ Tatsächlich hatte ich mich von diesem seltsamen Relikt, das den Betrachter*innen seine Verletzlichkeit offenlegte, beobachtet gefühlt.
Der Film LES STATUES MEURENT AUSSI (AUCH STATUEN STERBEN), der in den frühen 1950er-Jahren einige kritische Überlegungen zu den Auswirkungen des Kolonialismus auf die Wahrnehmung historischer afrikanischer Kunst anstellte, die in westlichen Museen beherbergt wird, beginnt mit der Feststellung: „Wenn Menschen sterben, gehen sie in die Geschichte ein. Wenn Statuen sterben, gehen sie in die Kunst ein. Dies ist die Botanik des Todes, die wir Kultur nennen.“ (Hervorhebungen der Autorin) Nach Meinung der drei Regisseure Resnais, Marker und Cloquet ist eine Statue – oder allgemeiner gesprochen ein Objekt – tot, wenn ihm der lebende, aktive Blick vorenthalten wird, der auf ihm ruhte, das heißt, wenn es aus dem Kontext, in dem es geboren wurde, entfernt und von seiner ursprünglichen anthropologischen Funktion und Bedeutung getrennt wird. In Bezug auf die Keramik, die Kina porträtiert, würde ich sagen, dass diese mindestens zwei Mal gestorben ist: Zum ersten Mal starb sie, als sie von Grabräubern illegal aus dem Grab entfernt wurde, für das sie vorgesehen war, und zum Bestandteil einer Mauer eines Privathauses wurde. Ihr zweiter Tod ereignete sich als sie wiederentdeckt und in die zeitlose Zeitlichkeit des Museums eingeschlossen wurde. Mit jedem neuen Leben hat das Objekt seine Bedeutung und seine Möglichkeiten neu konfiguriert. Es hat sich von einer rituellen Beigabe zu einem dekorativen Element und schließlich zu einem Stück Kulturerbe gewandelt. Man könnte fragen, wie sein Wert bemessen wurde und wie dieser sich entsprechend der verschiedenen Modi seiner Existenz verändert hat. Interessant anzumerken wäre, dass es schlussendlich wieder unantastbar wurde – so wie es zunächst gedacht war: Erneut heilig, im geweihten Raum des Museums.
Der keimfreien Atmosphäre und der stillgestellten Zeit, durch die sich die Dokumentation des Objekts in RED IMPASTO JAR auszeichnet, steht der lyrische Tonfall und der zeitliche Fluss von AFTER LIFE gegenüber. Der Film bildet den Kontext ab, innerhalb dessen Kinas Erzählung ihren Anfang nahm. Er besteht aus einer Reihe kurzer, starrer Einstellungen, die Ruinen einer kleinen faliskischen Nekropole und die sie umgebende Landschaft zeigen. Die Nekropole befindet sich in derselben Gegend im Norden Lazios, die die Künstlerin besuchte. Drei Gräber sind in den Einstellungen zu sehen. Sie wurden im Rahmen einer Ausgrabung entdeckt, die erst kürzlich, im Jahr 2015, stattfand. Auch diese Grabstätten waren – wie die meisten archäologischen Fundorte in der Region – von Grabräubern geplündert worden. Es gibt jedoch keine Hinweise, dass der im Museum befindliche Krug von genau diesem Ort entwendet wurde.
Die Sequenz beginnt mit einigen kurzen Blicken auf einen grünen Wald. Naturgeräusche überführen die Zuschauer*innen sanft in einen Zustand der Kontemplation. Die Eingänge der großen, in den Fels gehauenen Gräber erscheinen erst zur Mitte des Films und verschwinden nach einigen Einstellungen bereits wieder. Dann sehen wir erneut die Wälder, einen Wasserlauf und schließlich werfen wir einen letzten Blick aus der Vogelperspektive auf die Baumkronen, von oben und aus der Ferne. Am Ende hat man das Gefühl, die drei mysteriösen, felsigen Eingänge seien vom dichten Netz der Natur verschlungen worden. Vielleicht waren sie auch nicht mehr als ein Traum, eine Vision. Der Klang von Wasser, der den Film begleitet, unterstreicht das Vergehen der Zeit; einer Zeit, die eher einem inneren, kreisenden Rhythmus zu entsprechen scheint und weniger eine historische, lineare Zeit ist.
Jonna Kinas Arbeiten erlauben Menschen, sich geheimen Orten anzunähern, die nicht in einer anderen Raum-Zeit beheimatet sind, sondern hier und jetzt, ganz nah, in tieferen Wirklichkeitsschichten.
Die beiden Arbeiten, jeweils auf 35-mm-Film gedreht, unterscheiden sich scheinbar deutlich im Hinblick auf ihren Ton und ihre Herangehensweise. Einander gegenübergestellt entwickeln sie jedoch eine gegenseitige Spannung und bereichern einander. Beide weisen einige der typischen Eigenschaften auf, die Jonna Kinas künstlerische Praxis und Sprache auszeichnen: Die Fähigkeit, den Wahrnehmungsapparat des Publikums zu aktivieren, die Eleganz und Klarheit der Bilder, die Präzision des Blicks, der Dinge und Ereignisse analysiert und durchdringt, ohne dabei unnötig verkopft zu sein. Einerseits zeigt sich in ihrer sehr bedachten Art der Beobachtung der Wirklichkeit eine dokumentarische Sensibilität. Doch ihre Bearbeitung und Vermittlung des gesammelten Materials eröffnet immer wieder auch Dimensionen der Imagination.
In einer Passage des Buchs Autoritratto (Selbstbildnis), das Ende der 1960er-Jahre von der italienischen Kunstkritikerin und Feministin Carla Lonzi verfasst wurde, und das ich zufällig kürzlich wieder gelesen habe, erinnert sich die Autorin, dass sie sich als junges Mädchen vor der Kunst zunächst der Religion als einer Sphäre zugewandt hatte, in der man Erkenntnisse über die tiefer liegenden Schichten der Realität sammeln könne. Lonzis persönliche Reise führte sie dann schnell weg von religiösen Erfahrungen und hin zu kulturellem Engagement. Doch das grundlegende Bedürfnis blieb das gleiche: Kontakt zu einer anderen Art des Fühlens, um eine tiefere Initiation in die Existenz zu erfahren. Aus meiner Sicht ist dies die stärkste Qualität von Jonna Kinas Arbeiten. Sie erlauben Menschen, sich geheimen Orten anzunähern, die nicht in einer anderen Raum-Zeit beheimatet sind, sondern hier und jetzt, ganz nah, in tieferen Wirklichkeitsschichten. Ihre Arbeiten leiten uns auf subtile Weise in ein verborgenes Anderswo, das zwischen dem Raum des Unsichtbaren und des Unbeschreiblichen liegt; das nicht beschrieben, sondern nur gefühlt werden kann.
Marta Federici ist Kunsthistorikerin. Sie lebt in Rom, wo sie für Gavin Brown’s Enterprise arbeitet.