Das grundlegende Prinzip des Materialismus – und sowohl Kosmismus als auch Sozialismus sind zutiefst materialistische Denkweisen – besagt, dass alles Materie ist und dass alle Phänomene aus materiellen Interaktionen entstehen, seien es Interaktionen von Atomen oder Neuronen oder Pixeln oder Nummern, und so fort. Das ist eine Art Monismus (und – hier schließen wir an den Rest dieser Unterhaltung an – natürlich trägt das zentrale philosophische Buch Bogdanows, das Lenin in seinem Werk Materialismus und Empiriokritizismus angreift, den Titel Empiriomonismus). Und darum glaube ich, dass viele der zeitgenössischen Posthumanisten und all diese Leute, die auf irgendeine Form der digitalen Unsterblichkeit hoffen, wahrscheinlich genauso auf dem Holzweg sind wie die katholische Kirche, in dem Sinne, dass sie denken, sie könnten das Bewusstsein vom Körper trennen und in eine andere Maschine verpflanzen. Vielleicht ist das nicht so weit entfernt von dem Glauben, die Seele fahre nach dem Tod in den Himmel auf. […]
Weiterhin glaube ich, dass der vielleicht wichtigste Grund dafür, dass sowohl die Linke als auch die Rechte in gewisser Weise akzeptiert hat, dass das Töten Teil der menschlichen Natur ist, mit der Kraft des Todestriebs zusammenhängt. Unsere Körper sind auf genetischer Ebene darauf programmiert zu sterben, so wie fast jede andere lebende Materie auf diesem Planeten. Anders als andere lebende Materie besitzt der Mensch jedoch die Fähigkeit zu einer bestimmten Form der Reflexion. Und doch haben wir uns im Großen und Ganzen mit dem Tod abgefunden. Wir hinterfragen ihn nicht. Wir sind wie Nutztiere: Wir sind damit einverstanden, geschlachtet zu werden, solange wir ein wenig Zeit haben zum Leben, Essen, Spielen, Fühlen, Fortpflanzen, etc. Was sind die bei Teenagern beliebtesten Songtexte, die du gefunden hast? „Hell“, „Fuck“, „Die“? Wir sehen, wie andere geschlachtet werden, aber wir rationalisieren das als etwas Natürliches, denn es wirkt unausweichlich, wie etwas, dem schlussendlich niemand entkommt. Ich glaube, wenn wir uns der Unausweichlichkeit des Todes fügen, dann kann das Töten als einer von vielen Teilen des Gesamtpakets akzeptiert werden – schmerzhaft, tragisch, aber irgendwie natürlich.
Es muss eine Rebellion gegen den Tod geben. Dies kann nicht durch Zwang erreicht werden, sondern durch Bildung, durch Ideen, durch Gespräche, durch Literatur, Kino, Kunst.
Deshalb könnte der erste Schritt sein, sich auf ein Weltbild zuzubewegen, innerhalb dessen der Tod nicht natürlich ist. Ein Weltbild, das ihn als Feind versteht, der gemeinschaftlich bekämpft werden muss. Es muss eine Rebellion gegen den Tod geben. Dies kann nicht durch Zwang erreicht werden, sondern durch Bildung, durch Ideen, durch Gespräche, durch Literatur, Kino, Kunst … – kurz gesagt: durch kulturelle Mittel. Das ist es, woran ich arbeite, denke ich.
Das Weltbild eines Menschen zu verändern braucht eine sehr lange Zeit, doch ich denke, dass es nicht völlig hoffnungslos ist. Die Menschheit hat – zum großen Teil – die Sklaverei überwunden, auch wenn es viele tausend Jahre gedauert hat. In Geschlechterfragen und was den Rassismus angeht bewegen wir uns schrittweise auf mehr Gleichberechtigung zu, auch wenn diese Bewegung eher im Zickzack verläuft als in einer geraden Linie. Die Idee der repräsentativen Politik ist an den meisten Orten mehr oder weniger zur Norm geworden, auch wenn sie nicht perfekt ist und von den Eliten, den Oligarch*innen und von Faschist*innen angegriffen und untergraben wird. Ich denke, dass es möglich ist, dass sich unsere Einstellung zum Tod verändern wird und dass das Recht auf Verjüngung, Unsterblichkeit und Wiederauferstehung eines Tages als ein grundlegendes Recht aller lebenden Wesen und aller, die vor ihnen kamen, anerkannt wird. Die Biokosmisten wollten dieses Recht in der sowjetischen Verfassung verankern. Damals scheiterten sie, aber das heißt nicht, dass diese Idee nicht irgendwann doch Erfolg haben wird. Jahrhundertelang existierte die Idee der Demokratie nur in Passagen obskurer Dokumente, die in Klöstern verwahrt wurden. Sie war unvorstellbar als tragfähiges politisches System. Dann entsteigt sie plötzlich den Seiten der alten Bücher und wird als das dominante Modell sozialer Organisation akzeptiert. Es ist seltsam, wie bestimmte Ideen sich über die Zeit entwickeln. […]
Der verfemte Teil – Batailles letztes Buch, in dem er vom Energieüberschuss, von der Sonne, dem Tod und so weiter spricht – ist eines meiner Lieblingsbücher von ihm.
In diesem Buch kommt er der Weltsicht der Kosmisten sehr nahe: Das Leben auf der Erde ist zu einem gewissen Grad stark von himmlischen, kosmischen Kräften geformt und kontrolliert, insbesondere durch den Effekt der Sonne auf unseren Planeten. Die Sonne ist supergroßzügig, denn sie gibt der Erde eine große Menge Energie, viel mehr als wir tatsächlich auf sichere Art und Weise verbrauchen können. Die Sonnenergie wird in pflanzliches und tierisches Leben umgewandelt und – durch den Tod all dieser lebenden Substanz – in Kohle, Öl, Gas – all diese fossilen Brennstoffe, die im Grunde unter der Erdoberfläche eingeschlossenes Sonnenlicht sind. Der Überschuss dieser Energie muss durch extravagante Aktivitäten verbraucht werden, für die enorme Mengen Energie nötig sind: Gewalt, Krieg, Sexualität, und so fort. Bataille sieht die Kunst als einen Weg, den Energieüberschuss gewaltfrei abzubauen.
Kosmismus ist Biopolitik, denn er beschäftigt sich mit der Administration von Leben, Verjüngung, sogar Wiederauferstehung.
Fedorow hat ein ähnliches und doch leicht abweichendes Konzept: Er sieht die gesamte Oberfläche unseres Planeten, die Biosphäre, in der wir leben, und die organische Schicht des Planeten, die Erde, als eine Art enormen Friedhof, auf dem alles aus den Überresten von Menschen, Tieren, Pflanzen besteht – all der lebenden Materie, die gestorben ist. Wir leben in diesen Überresten. Wir essen, trinken und atmen sprichwörtlich unsere Vorfahren. Wir sind völlig vom Tod und dem, was er hinterlässt, umgeben und eingeschlossen. Für Fedorow ist der Kampf gegen den Tod also ein Befreiungskampf – aus dem Kreislauf, in dem wir die Toten verzehren und selbst verzehrt werden; aus dem Festsitzen in diesem Sumpf aus toten Körpern und Elend. […]
Tod ist Kapital. Das ist ziemlich wörtlich zu nehmen, denn alles, was wir anhäufen – Essen, Energie, Rohstoffe, etc. – sind Produkte des Todes. Doch es gibt auch etwas anderes, dass sich ausschließlich im Reich des Lebens abspielt – Arbeit, Vernunft, Liebe. Wenn wir die digitale Disruption von der Du sprichst nutzen können, um das letztere zu verstärken und die Abhängigkeit vom ersteren zu reduzieren, dann denke ich, dass wir einen Schritt in die richtige Richtung gemacht haben. Einer der Wissenschaftler in der kosmistischen Bewegung war der Geologe Wladimir Wernadski. Er entwickelte während des Zweiten Weltkriegs die Idee der Noosphäre. Das ist eine zutiefst optimistische Theorie, die besagt, dass das Leben auf unserem Planeten von einer emergenten Sphäre der Vernunft und Kommunikation verändert werden wird, deren Beziehung zum Leben dem Verhältnis zwischen Biosphäre und Geosphäre vergleichbar ist.
Arseny [Zhilyaew] meint, die Theorie der Noosphäre sei eine optimistische Version der Theorie des Anthropozäns. […]
Kosmismus ist Biopolitik, denn er beschäftigt sich mit der Administration von Leben, Verjüngung, sogar Wiederauferstehung. Darüber hinaus ist er eine radikalisierte Form der Biopolitik, denn seine Ziele sind den derzeitigen normativen Erwartungen voraus und beziehen sogar die Verstorbenen mit ein. Es ist allgemein anerkannt, dass die politische Macht eine biopolitische Wende vollzieht von der schlichten Ausübung des Rechts seine Subjekte zu töten, ohne für deren Gesundheit und Leben verantwortlich zu sein, hin zu Regierungen, die die Verpflichtung akzeptieren Gesundheitsdienstleistungen und medizinische Versorgung anzubieten, Lebensmittel bereitzustellen, für sauberes Wasser und saubere Luft zu sorgen. Das ist ein enormer Wandel – von der Regelung von Strafe und Tod hin zur Regelung von biologischem Leben, auf dem das Einverständnis der Regierten basiert. Der nächste logische Schritt für eine Gesellschaft scheint die Garantie fortwährenden Lebens für ihre Mitglieder zu sein und in der Folge die Ausweitung dieser Garantie auf die Toten: Eltern und Großeltern … – praktisch jeder.
Ein Weg Hunger zu verhindern ist die Steigerung der Lebensmittelproduktion. Ein anderer jedoch wäre, unsere Körper so anzupassen, dass sie kein Essen mehr benötigen, sie sozusagen selbsternährend zu machen.
Die technische Entwicklung, die nötig ist, um diese Ziele zu erreichen, hat vielleicht weniger mit der industriellen Produktion von Geräten, Maschinen und all dem Kram zu tun, der auf die Ausbeutung von Rohstoffen, fossilen Brennstoffen und so weiter angewiesen ist. Sondern viel mehr mit bestimmten Veränderungen unserer biologischen Körper. Ein Weg Hunger zu verhindern ist die Steigerung der Lebensmittelproduktion. Ein anderer jedoch wäre, unsere Körper so anzupassen, dass sie kein Essen mehr benötigen, sie sozusagen selbsternährend zu machen. Ähnliches gilt für die Frage der Wohnungsknappheit: Entweder baut man eine Vielzahl von Behausungen oder man macht den Körper so stark, dass er – wie die meisten anderen Tiere – keinen Schutz mehr braucht, was die avanciertere Methode wäre. Ich spreche nicht von einem gepanzerten Körper im Stil eines Terminators, sondern von dem biologischen Körper, den wir bereits besitzen, nur das dieser stärker und besser gemacht wird. Andere Lebensformen auf unserem Planeten zeigen in dieser Hinsicht interessante Möglichkeiten auf. Es gibt Organismen, die schlichtweg nicht sterben – wie die unsterbliche Qualle, die ihren Lebenszyklus ganz einfach fortwährend umkehrt. Oder diese winzigen Wasserbären, die anscheinend sogar im Weltall überleben können – auf Satelliten und anderen Raumschiffen in der Erdumlaufbahn. Oder sogar ganz normale Zimmerpflanzen, die Energie durch Photosynthese herstellen. Wir haben Teile des genetischen Codes mit all diesem Leben gemeinsam und ich glaube nicht, dass es völlig unmöglich ist, einige ihrer erstaunlichen Fähigkeiten in unsere grundlegende Biologie zu überführen. Mir ist klar, dass das alles wie Science-Fiction klingt, aber unsere Fähigkeit zum Denken eröffnet viele Möglichkeiten. […]
Anton Vidokle
Auszüge aus einem Gespräch zwischen Anton Vidokle und Hito Steyerl: „Cosmic Catwalk and the Production of Time“, e-flux journal #82, Mai 2017, siehe https://www.e-flux.com/journal/82/134989/cosmic-catwalk-and-the-production-of-time/ (letzter Abruf am 25. Mai 2021).