Kurz nachdem ich im Jahr 1975 nach West-Berlin gekommen war, zog ich in das großzügige oberste Stockwerk der fast leerstehenden ehemaligen Deutschen Zentraldruckerei in der Nähe der Mauer und unweit des Potsdamer Platzes. Die großen Fenster und die Terrasse boten einen Ausblick auf die Gebäude, die den 2. Weltkrieg überlebt hatten: etwa den Martin-Gropius-Bau oder Bauruinen wie das Haus Vaterland, die später entweder renoviert oder abgerissen wurden. Man schaute auf Brachflächen, neue Bauten und die Mauer mit ihren Wachtürmen, von wo aus Wachleute unser Treiben auf der Terrasse durch ihre Ferngläser beobachteten.
Es war ein seltsames und dramatisches Bühnenbild für Träume, Filme, Musik, nächtliche Spaziergänge und das Nachdenken über fürchterliche Zerstörung, Grauen und Verlust. Es war auch die Zeit der RAF und der Schleyer-Entführung. Nachbar*innen müssen uns als verdächtig gemeldet haben, denn eines Morgens weckte mich das Geräusch meiner aufbrechenden Tür und ich sah mich einem Polizisten gegenüber, der sein Maschinengewehr auf mich richtete. Die Straße, auf die ich herabblickte, die die Brachflächen des Potsdamer Platzes miteinander verband, wurde häufig von der Polizei kontrolliert, die Autos anhielt und sie durchsuchte.
Ich verbrachte einen Großteil meiner Zeit damit, durch die Nachbarschaft zu streifen und der Mauer entlang in eine Richtung folgend die Fassaden der Trümmer und Gebäude zu fotografieren und zu filmen. Die Haus Vaterland-Ruine – bekannt als Vergnügungspalast oder Luftschloss – war nicht einmal abgesperrt und ich kletterte hinein, erklomm den kaputten Treppenaufgang und filmte mit meiner Nizo Super-8-Kamera. Nachts filmte ich den von Granatsplittern durchlöcherten und mit Ruß befleckten Reichstag, mit der Mauer im Hintergrund. Die Worte über seinem Portal muteten bitter ironisch an: Dem Deutschen Volke.
Es war ein seltsames und dramatisches Bühnenbild für Träume, Filme, Musik, nächtliche Spaziergänge und das Nachdenken über fürchterliche Zerstörung, Grauen und Verlust.
Dies war der Rahmen für Selbstreflexion und persönliche Beobachtungen, die im Widerspruch zu den fast täglichen Zurechtweisungen durch Berliner*innen standen, die mir verdrießlich und autoritär erschienen. Ich kannte andere deutsche Städte, zwar nicht so gut, aber sie erschienen mir anders. Ich hätte mich nicht weiter von den Inseln der Karibik und der Südsee, auf denen ich aufgewachsen war, entfernen können. Deutschland war das absolute Gegenteil: geografisch, historisch, Wetter und Temperament betreffend. Berlin war „der Ort der blutigen Operette“ und des Kalten Krieges. Nachdem ich in Vanuatu zusammen mit Rudolf Thome den Film BESCHREIBUNG EINER INSEL (1979) gedreht hatte, in dem eine Gruppe Europäer*innen versucht, das Leben der Inselbewohner*innen zu verstehen, wendete ich mich nun Berlin zu. BÖSE ZU SEIN IST AUCH EIN BEWEIS VON GEFÜHL sollte zunächst ein Spielfilm werden, stieß aber auf Widerstand. Schließlich bot mir Jürgen Tomm vom Berliner Fernsehsender SFB (heute RBB) eine Summe an und fragte, was ich damit machen könnte.
Ich notierte Gespräche mit Freund*innen sowie meine alltäglichen Konflikte. Die Zusammenarbeit mit Heinz Emigholz an den Texten war inspirierend. Auf Helmut Herbsts Animationstisch in Hamburg stellte ich 16-mm-Blow-Ups meiner Super-8-Filme her. Maurice Weddington kam irgendwann vorbei, um sich den Rohschnitt anzuschauen und brachte mir seine wunderbare Komposition Fire in the Lake mit. Der Titel entstand aus einer Befragung des Yijing. Hexagramm 49 und steht für die Umwälzung, die Abschaffung des Alten. „Einfach gesagt beschreibt dieses Hexagramm einen bestimmten Punkt im Zyklus des Lebens, an dem der Frieden ins Chaos übergeschwappt ist. Ähnlich zu dem, was mit Wassermolekülen passiert, die zu kochen beginnen. Es herrscht ein Konflikt vor, ein Feuer im See. Wenn dieser Siedepunkt, dieses Chaos eine kritische Masse erreicht, gibt es eine radikale Veränderung und eine Metamorphose. Das Alte wird gereinigt und wiedergeboren. Das ist die Revolution von Körper, Geist und Seele. Diese Veränderungen finden meist innerlich statt, unsichtbar und möglicherweise nicht wahrnehmbar, bis die Metamorphose abgeschlossen ist – wie bei einem Schmetterling.“ (https://fireinthelake.com/about/)
Wir legten das Stück Fire in the Lake auf die Tonspur des Films und das war’s – es war magisch.
BÖSE ZU SEIN IST AUCH EIN BEWEIS VON GEFÜHL steht für mich tatsächlich für das Abschaffen des Alten. Die Arbeit an dem Film war kathartisch und befreiend. Es war der Beginn einer neuen Beziehung zu Berlin, eine Beziehung, die sich noch immer weiterentwickelt und gelegentlich auf Fragen zurückkommt, die in den späten 70er- und frühen 80er-Jahren aufgeworfen wurden. Alte Bedrohungen nehmen neue Formen an.
Cynthia Beatt