„Fiktionsbescheinigung“: Das ist ein Begriff aus dem Amtsdeutsch. Wenn Menschen aus Nicht-EU-Ländern einen Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis stellen, dann erhalten sie für die Zeit, in der der Antrag geprüft wird, eine solche Bescheinigung. So können sie ihr vorläufiges Recht, sich in Deutschland aufzuhalten, belegen. Für sie ist es trotzdem eine Phase der Unsicherheit: Wird der Antrag abgelehnt? Wird er akzeptiert? Das Verfahren kann mehrere Monate, manchmal Jahre dauern. Und strenggenommen würde schon der Antrag reichen, das Aufenthaltsrecht nachzuweisen, doch die deutschen Behörden mögen es, wenn es bürokratisch zugeht.
Vor diesem Hintergrund erlaubt sich die Filmreihe „Fiktionsbescheinigung. 16 filmische Perspektiven auf Deutschland“, nachzufragen: Wer findet Einlass in die deutsche Kulturgeschichte, ins Kino und den Filmkanon, und wer bleibt draußen? Wer bestimmt, was gespielt wird? Was lässt sich gegen überkommene Rollenverteilungen im Kulturbetrieb tun?
Wer voraussetzt, dass wir im Jahr 2021 in Deutschland in einer offenen, ausdifferenzierten Gesellschaft leben, zu der Menschen, die entweder selbst oder deren Vorfahren vor Jahrzehnten eingewandert sind, selbstverständlich gehören, wird immer wieder mit einer rassistischen Realität konfrontiert, und dieser Rassismus macht vor den Absperrungen von Filmsets ebenso wenig Halt wie vor dem fiktionalen Raum auf der Leinwand oder dem heimischen Bildschirm, solange er immer wieder in die Bilder und die Erzählungen einsickert.
„Fiktionsbescheinigung“ setzt dagegen die Idee einer fluiden Liste von Filmen aus den letzten vier Jahrzehnten. Die Reihe versteht sich als Momentaufnahme in einem selbstbestimmten und fortlaufenden Prozess der Einmischung und des Widerspruchs. Jeder Film ist ein Vorschlag, den weißen deutschen Blick mit vielfältigen, intersektionalen Perspektiven zu parieren, und allen gemein ist eine eigene visuelle und textuelle Praxis der Zeugenschaft von innen, nicht vom Rand. Einige Arbeiten im Programm von „Fiktionsbescheinigung“ handeln direkt oder indirekt von der Absurdität der Bürokratie (JORDMANNEN) oder vom kafkaesken Hindernislauf zu Staatsbürgerschaft und Zugehörigkeit (DIE TÜRHÜTER, BRUDERLAND IST ABGEBRANNT). Andere beschreiten Wege durch die Städte und über Land und erkunden dabei Orte, die der Mehrheitsgesellschaft meist unbekannt sind, obwohl sie ein lebendiger Teil Deutschlands sind (AUSLANDSTOURNEE). Oder sie forschen nach Biographien, für die Gleiches gilt (ZİYARET, VISIT).
Manche gehen humorvoll mit dem weißen Blick um (IN THE NAME OF SCHEHERAZADE). Wichtige Zeitdokumente (18 MINUTEN ZIVILCOURAGE, BLACK IN THE WESTERN WORLD) erhalten die Sichtbarkeit, die sie seit ihrem Entstehen hätten haben sollen. Andere Filme beschäftigen sich mit Generationskonflikten im Einwanderungsland Deutschland (GÖLGE), oder die Kinder blicken auf das Leben ihrer Eltern (SORGE 87). Wieder andere erinnern an die Opfer der rassistischen Gewalt (DER ZWEITE ANSCHLAG), manche finden Ausdruck ihrer Diversität in Plot- und Figurenkonstellationen, die subtile, narrativ gut eingebettete Formen der Kritik vorschlagen (EXIL, RISS, AUF DEN ZWEITEN BLICK, FAKE SOLDIERS). Und manchmal nimmt sich ein Film die Freiheit, in die Zukunft zu springen und dabei eine bessere Welt zu imaginieren (OCTAVIA’S VISIONS).
Dabei ermuntert „Fiktionsbescheinigung“ die Zuschauer*innen, sich zu fragen, wo sich diese 16 Filme bisher versteckt haben und warum die meisten von ihnen einem breiteren Publikum nicht zugänglich waren. Damit bietet die Reihe eine Diskussionsgrundlage, um über Ausgrenzung und Diskriminierung vor und hinter der Kamera, bei Festivals, in der Archivierung und Kanonisierung, in der Distribution und der Rezeption von Filmen in Deutschland ins Gespräch zu kommen. Vertieft wird dieses Gespräch in einem dreitägigen Panelprogramm, das im virtuellen Raum stattfindet, um vielfältige und richtungsweisende Perspektiven auf den deutschen Film vorzustellen und sich mit Rassismus im Film auseinanderzusetzen.
Enoka Ayemba, Karina Griffith, Jacqueline Nsiah, Biene Pilavci, Can Sungu