Arbeit, Liebe, Freundschaft, Kino: All das gestaltet sich heute anders als vor einem Jahr. Die Sicherheiten, auf die man sich noch im Herbst 2019 verlassen konnte, sind porös geworden. In anderen Gegenden der Welt, in denen Unsicherheit ohnehin Teil des Alltags ist, mag man im Umgang damit geübter sein. Im auf Plan- und Machbarkeit ausgerichteten Westeuropa muss man sich an eine Situation, die an einen auf Dauerschleife gestellten Agilitäts-Workshop erinnert, erst gewöhnen. Wem es unter diesen Bedingungen gelingt, einen Film zu drehen und fertigzustellen, dem/der gebührt Hochachtung.
Die 17 Filme umfassende Auswahl des 51. Berlinale Forums setzt auf Arbeiten, die den außerfilmischen Unwägbarkeiten begegnen, indem sie in ihren Plots und Konstellationen die Unberechenbarkeit umarmen. Sie gibt dem Fragilen den Vorzug vor dem Bewährten. Filmemacher*innen, die am Anfang ihrer Karriere stehen, nehmen mehr Raum ein als ihre arrivierten Kolleg*innen.
Viele Filme schlagen narrative Haken, fahren wie Manque La Bancas Debüt ESQUÍ Slalom zwischen Fiktion und Dokument, tauchen ab in Archive und vernähen die Fundstücke aus der Vergangenheit mit der Gegenwart. Gleich zweimal zum Beispiel wird Jean-Luc Godards LA CHINOISE der Revision unterzogen: in Ephraim Asilis THE INHERITANCE und in Vincent Meessens JUSTE UN MOUVEMENT. Sabrina Zhao verwandelt in ihrem ersten Langfilm SICHUAN HAO NUREN ein Brecht’sches Lehrstück in einen opaken filmischen Raum. Uldus Bakhtiozina erzählt in ihrem Debüt DOCH RYBAKA auf geradlinige Art ein Märchen, doch schraubt sie zugleich schwindelerregende kulturgeschichtliche Spiralen in die luftige Höhe ihrer Fiktion. Die besten Zahnverblendungen haben ihre Figuren sowieso.
Verdiente Filmemacher*innen sind natürlich auch dabei. Mit THE FIRST 54 YEARS – AN ABBREVIATED MANUAL FOR MILITARY OCCUPATION zum Beispiel erweitert der israelische Dokumentarist Avi Mograbi sein reiches Werk um eine bittere Bestandsaufnahme dessen, was Besatzung bedeutet. Die Berliner Regisseure Chris Wright und Stefan Kolbe loten mit ANMASSUNG die Möglichkeiten dokumentarischen Filmemachens auf bewährt unerschrockene Weise aus. Und die thailändische Regisseurin Anocha Suwichakornpong setzt in JAI JUMLONG auf souveräne Weise fort, was ihr bisheriges Oeuvre (u.a. MUNDANE HISTORY, 2009) auszeichnete: die Mischung aus narrativer Subtilität und historisch tiefenscharfem Blick.
In einer Zeit, in der der Rückzug auf das Eigene – Land, Stadt, Viertel, Wohnung, Familie – geboten erscheint, ist die Gefahr groß, dass sich der Wahrnehmungshorizont verringert. Die Filme des 51. Berlinale Forums helfen dabei, in Gedanken und in der Imagination durchlässig für die Außenwelt zu bleiben.