Eine Notwendigkeit
Ist dies ein weiterer Film über die Lager, die Deportation, die Shoah? Ja und nein.
– Ja, denn diese Ereignisse liegen noch nicht lange zurück (nur zwei Generationen), und betreffen Millionen von Menschen. Dennoch sind wir noch immer weit davon entfernt, sie vollständig zu erfassen.
– Ja, denn mit dem Verschwinden der Zeitzeugen werden diese Ereignisse zu einem Teil unserer Geschichte und unser Verhältnis zu ihnen ändert sich: Es geht also darum, dieses neue Verhältnis zu erkunden und zu analysieren.
– Ja, denn die Forschung hat riesige Fortschritte gemacht: Dieser Film wäre vor zehn Jahren einfach nicht möglich gewesen, weil die Fotografien aus den Lagern einen vollkommen anderen Stellenwert hatte und andere Kämpfe ausgefochten werden mussten.
– Nein, denn der Film konzentriert sich weder teilweise noch vollständig auf die narrative Auseinandersetzung mit dem Leben in den Konzentrationslagern und die Realität der Shoah. Er verfolgt ein anderes Ziel und erzählt eine andere Geschichte, in der es um die Schwierigkeiten einer geheimen, unbemerkten Abbildung geht.
– Nein, denn im Mittelpunkt dieses Projekts steht die Arbeit der Fotograf*innen.
– Nein, denn wir wollen mit unserer Arbeit den Stellenwert dieser Fotografien in allen ihren Dimensionen hinterfragen.
– Nein, denn es geht hier darum, die Kraft von Bildern im Spannungsfeld einer Alltagswelt zu erkunden, welche die Möglichkeit ihrer Existenz grundsätzlich ausschloss.
In diesem Film können wir zum ersten Mal durch die Augen der Deportierten sehen. Wir sehen mit Hilfe der von ihnen aufgenommenen Bilder, was sie damals erblickten: Und nur mit den Mitteln des Films lässt sich eine solche Wirkung erzielen.
Die menschliche Ebene
Mit der Arbeit an diesem Filmprojekt begann ich vor etwa zwanzig Jahren, als ich Boris Taslitzky kurz vor seinem Tod kennenlernte. Boris war Jude, Kommunist und Maler. Er hatte Buchenwald überlebt, seine Mutter war in Auschwitz ermordet worden.
À PAS AVEUGLES (FROM WHERE THEY STOOD) und die Recherche zu diesem Film wären nicht möglich gewesen ohne meinen Austausch mit Boris und all den anderen Deportierten, die ich später traf (wie José Fosty, Walter Spitzer, Yehuda Bacon oder Schlomo Selinger), mit Fotografen (Georges Angéli), Schriftstellern (wie Jorge Semprun) und allen übrigen Beteiligten einschließlich ihrer Familien und Kinder (viele von ihnen im Alter meiner Eltern). Sie haben mich dazu ermutigt, die Standorte der ehemaligen Konzentrationslager zu besuchen und die Archive zu konsultieren, in denen die Aufnahmen erfasst und verwahrt werden.
Sie stellten darüber hinaus den Kontakt zu Kurator*innen und Historiker*innen her, die in Frankreich, Deutschland, Israel, Polen, der Tschechischen Republik, den USA, Großbritannien, Belgien, der Schweiz und Italien zu diesen Themen arbeiten. In diesen Gesprächen und im Rahmen meiner dokumentarischen Recherche konnte ich ermitteln, wie sich Fragen im Zusammenhang mit Bildern aus Kriegszeiten sowie mit der Darstellung der Lager und der Shoah entwickeln.
Über die Jahre habe ich mich in drei Filmen mit diesen Themen auseinandergesetzt: L'ATELIER DE BORIS (ein Portrait von Boris Taslitzky), QUAND NOS YEUX SONT FERMÉS (ein Essay über die geheimen Kunstwerke aus Buchenwald, das um ein Gedicht von Louis Aragon kreist) und PARCE QUE J’ÉTAIS PEINTRE. Darüber hinaus habe ich bei Editions du Seuil im Jahre 2019 mein Buch Éclats veröffentlicht, das sich ebenfalls dem Thema von À PAS AVEUGLES widmet.
In diesem Film geht es weniger um eine „Untersuchung“ als vielmehr um eine Suche. Er setzt das Vorhaben in Szene, einen Zusammenhang zwischen Bildern, Ruinen, Geschichten und der Geschichte als solcher herzustellen.
Aus diesem Grund spielt er auch in der Gegenwart und beruht auf dem Wissen, das wir heute über diese Ereignisse haben, sowie auf einem Verständnis von Geschichte, das meiner Zeit, meiner Generation und unserem derzeitigen Verhältnis zu Bilddokumenten aus dem Krieg entspricht. Auch wenn À PAS AVEUGLES ein weiterer in einer Reihe zahlreicher Filme zu ähnlichen Themen ist, haben sich diese Filme doch nicht mit der Frage der heimlichen Abbildung der Deportation auseinandergesetzt.
Spürbares Wissen
Eine der größten Herausforderungen des Kinos ist die Darstellung der Hölle des Alltags. Darum geht es in Abel Gances J’ACCUSE (1919), László Nemes‘ neuerem Film SON OF SAUL (2015) und in so unterschiedlichen Werken wie Rithy Panhs S21: THE KHMER ROUGE DEATH MACHINE (2003) und THE MISSING PICTURE (2013), Jean-Daniel Pollets THE ORDER (1973), Kubricks PATHS OF GLORY (1957), Chris Markers La JETÈE(1962) oder Armand Gattis L‘ENCLOS (1961) ...
Natürlich denke ich auch an Filme von Harun Farocki wie BILDER DER WELT UND INSCHRIFTEN DES KRIEGES (1989) und AUFSCHUB (2007), die mich inspirierten, und an PASAZERKA (1963), einen wunderschönen unvollendeten Film von Andrzej Munk, sowie ARCHEOLOGIA – einen kaum bekannten Kurzfilm, den Munks ehemaliger Assistent Andrzej Brzozowski 1968 in Auschwitz drehte und der in wenigen Einstellungen die Arbeit von Filmemacher*innen und Archäolog*innen gegenüberstellt. Diese Verknüpfung von Film und Archäologie bot mir wichtige Anhaltspunkte für meine Arbeit an diesem Projekt.
Doch vor allem Alain Resnais’ NUIT ET BROUILLARD (1956) geht mir nicht aus dem Sinn. Der Film thematisiert den Stellenwert von Bilddokumenten und zeigt die Überreste der Lager. Auch Claude Lanzmanns SHOAH (1985) hat sich in meiner Erinnerung eingebrannt. Darin wird gezeigt, dass jeder Versuch, den Holocaust darzustellen, zum Scheitern verurteilt ist (im Gegensatz zum Verbot seiner Abbildung). Er ist derart wirkungsvoll in Szene gesetzt, dass niemandem entgehen kann, wie sehr die Orte des Geschehens, die Zeitzeugenberichte, die geschichtlichen Ereignisse und die Bilder durch etwas Wesentliches, Wahres und Offenkundiges miteinander verbunden sind, auch wenn sich dies vielleicht nicht immer in Worte fassen lässt.
Diese beiden Filme sind meine ständigen Begleiter. Sie sind eine Hommage an die heimlichen Fotograf*innen, die an das Potenzial ihrer Bilder glaubten, um die eigene und die Existenz der Opfer belegen zu können, und zwar nicht nur als notwendige „Zeugnisse“ oder „Beweismittel“.
Es war mir daher wichtig, einen echten Kinofilm zu machen, in dem Materialien und Sinneseindrücke zum Einsatz kommen. Dabei ging es mir nicht so sehr um die Erzählung und/oder Weitergabe von Zeitzeugenberichten, sondern vielmehr um die Auseinandersetzung mit den Überresten und das Verknüpfen der verstreuten Fragmente einer Welt in Trümmern, um auf diese Weise ihre Realität und Omnipräsenz besser nachzuempfinden.
Darüber hinaus geht es um Aspekte wie Raum, Maßstab, Leinwand, Zeit, Dauer und Rhythmus, die im Kino mehr als in jedem anderen Medium eine besondere Bedeutung erhalten, weil das Kino unsere Sinne anspricht.
Es ist auch eine Frage der Perspektive: Auf einer großen Leinwand kann man die Bildränder nicht sehen und auf diese Weise vollkommen in die Fotoaufnahmen eintauchen.
Und es ist eine Frage der Vorstellungskraft: Mit Hilfe dieser heimlich aufgenommenen Fotografien können wir versuchen, uns in die damaligen Ereignisse hineinzuversetzen.
Mehr als alles andere gibt uns dieser Film die Möglichkeit, in die Herzen der Opfer, ihre Schicksale, ihr Bewusstsein und ihre „Fiktionen“, also ihre Sicht auf die Dinge im Angesicht der Katastrophe, einzutauchen.
Christophe Cognet