Ein einziger Blick auf diesen Überrest an Bildern, auf dieses erratische Korpus aus Bildern trotz allem genügt, um zu verstehen, dass es nicht länger möglich ist, über Auschwitz in den absoluten Begriffen des „Unsagbaren“ und „Unvorstellbaren“ zu sprechen. Diese Redeweise verfolgt im allgemeinen gute Absichten, sie ist scheinbar philosophisch, in Wirklichkeit aber ist sie bequem. Die vier Fotografien, die im Sommer 1944 von den Mitgliedern des Sonderkommandos aufgenommen wurden, richten sich an das Unvorstellbare, als das die Shoah heute so häufig angesehen wird, und sie widerlegen es auf tragische Weise. Man hat Auschwitz undenkbar genannt. Aber Hannah Arendt hat gezeigt, dass wir genau dort, wo das Denken ins Straucheln gerät, weiterdenken sollten oder vielmehr dem Denken eine andere Richtung geben müssen. Übersteigt Auschwitz jedes rechtliche Denken, jede Vorstellung von Vergehen und Gerechtigkeit? Dann muss man eben die politischen Wissenschaften und das Recht im ganzen neu überdenken. Übersteigt Auschwitz jedes existierende politische Denken, ja sogar jegliche Anthropologie? Dann muss man eben die Humanwissenschaften als solche von Grund auf überdenken.
Für diese Aufgabe ist die Rolle des Historikers selbstverständlich von zentraler Bedeutung. Er kann und darf nicht „anerkennen, dass man sich des Problems, das der Genozid an den Juden darstellt, entledigt, indem man es in den Bereich des Undenkbaren verbannt. [Der Genozid] wurde erdacht, daraus folgt, dass er denkbar war“. In diese Richtung geht auch die Kritik, die Primo Levi an den Spekulationen über die „Inkommunikabilität“ der Zeugnisse aus den Lagern übt. Die bloße Existenz und die Möglichkeit solcher Berichte – ihre Äußerung trotz allem – widerlegen die schöne und um sich selbst kreisende Idee eines unaussprechlichen Auschwitz. Die Zeugnisse fordern uns dazu auf, sie verpflichten uns, den genuinen Gehalt ihrer Worte zu studieren: eine mühevolle Arbeit, denn sie beruht auf der Beschreibung des die Menschen dahinraffenden Todes und schließt das Schweigen und die unartikulierten Schreie ein, die mit ihm einhergehen. In den Kategorien des Unaussprechlichen über Auschwitz zu reden, bedeutet keineswegs, sich Auschwitz anzunähern. Es bedeutet ganz im Gegenteil, Auschwitz in eine Sphäre zu entrücken, die Giorgio Agamben zu Recht als mystische Anbetung definiert hat und läuft letztlich sogar auf eine unbewusste Wiederholung des von den Nazis selbst beschworenen Arkanums hinaus.
So muss man also das Bild mit der gleichen theoretischen Strenge behandeln, die wir, wenn auch mit weniger Mühe (und im Gefolge Foucaults), bereits auf die Sprache anwenden. Denn in jedem Zeugnis, in jedem Akt des Gedenkens sind Sprache und Bild sich gegenseitig verpflichtet und beziehen sich stets auf die Lücken des jeweils anderen: Wo das Wort zu scheitern droht, stellt sich häufig ein Bild ein; wo die Einbildungskraft zu scheitern droht, stellt sich häufig ein Wort ein. Die „Wahrheit“ über Auschwitz, wenn dieser Ausdruck einen Sinn hat, ist nicht mehr oder weniger unvorstellbar als sie unaussprechlich ist. Wenn das Entsetzen der Lager die Vorstellungskraft herausfordert, wie notwendig muss uns dann jedes Bild erscheinen, das einer solchen Erfahrung abgerungen wurde! Wenn der Schrecken der Lager wie ein Getriebe der umfassenden Auslöschung organisiert ist, wie notwendig muss uns dann jede visuelle Manifestation erscheinen, die uns ein einziges Rad dieses Getriebes vor Augen stellt - wie fragmentarisch, wie schwierig zu betrachten und zu deuten sie auch sein mag!
Aus: Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem, aus dem Französischen von Peter Geimer, Paderborn 2007, S. 44-47
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