Direkt zum Seiteninhalt springen

Einmal fragt die junge Fischverkäuferin, ob sie bei der Umwandlungsprozedur zur „Tzarevna“, zur Zarentochter, ihr eigenes Gesicht anbehalten dürfe. Wieso, entgegnet die Zeremonienmeisterin mit der Kälte einer Castingshow-Moderatorin, das sei doch so langweilig – das wäre ja, „wie gar kein Gesicht zu haben“. Es folgt eine kurze, absurde Sitzung an einem mechanischen Gerät, das der Kandidatin mit Wucht Puder, kreisrundes Wangenrouge, Standard-Augenbrauen und zu viel Lippenstift ins Gesicht schleudert.

Die Ironie, mit der die russische Fotokünstlerin und Regisseurin Uldus Bakhtiozina in ihrem satirischen Märchen weibliche Schönheitsideale demontiert, wie sie mit visuellem Witz von der Erschaffung eines Bildes erzählt und es im selben Moment mit großer Lust an Aufwand und Staffage einstürzen lässt, diese Melange aus Magie und Schabernack spricht schon aus dem internationalen Titel ihres flott 70-minütigen Langfilm-Debüts. Denn DOCH RYBAKA (TZAREVNA SCALING) kann zweierlei meinen: die Normierung zur (russischen) Prinzessin ebenso wie eine Prinzessin, die etwas abschuppt – einen Fisch zum Beispiel. 

Parkour voller Prüfungen

Diese unglamouröse Tätigkeit leitet denn auch den Verwandlungstrip ein, um den sich in DOCH RYBAKA alles dreht. In einer leicht heruntergekommenen Fischbude an einem trostlosen Frachthafen arbeitet Polina (Alina Korol) mit ihrer Kollegin Seraphima (Seraphima Soloviova). Polina klagt über ihre Schlaflosigkeit und die Sorge um ihren verschwundenen Bruder, und wie das in Märchen oder Träumen so ist, bekommt sie zwei rätselhafte Dinge überreicht: von Seraphima goldene Glücks-Ohrringe in Fischform, und von einer hexenhaften Stammkundin Tee, der ihren Schlaf „in ein Märchen“ verwandeln soll. Abends passiert es dann: Polina steht an ihrem Küchentisch, eine Kippe im Mundwinkel, und bearbeitet melancholisch einen Hecht, schrapp, schrapp. Lustlos bricht sie ab. Ein Schluck von dem Tee, der plötzlich auch im alten Röhrenfernseher angepriesen wird, und schon sinkt sie im Tiefschlaf aufs Sofa. 

War bislang ohnehin nicht ganz klar, in welcher Gegenwart Polina lebt, vermischen sich von nun an alle Ebenen. Unversehens befinden wir uns mit der Heldin in einem Labyrinth aus muffigen, grün gestrichenen und braun vertäfelten Büros aus der Sowjet-Ära, angeleitet von einem knarzenden Radio-Guide und einer in Schlangenlederstiefel gewandeten, bösen, aber charmanten Prinzessin namens Adygea (Victoria Lisovskaya), einer populären russischen Märchenfigur. Die Heldin absolviert einen Parcour voller Prüfungen, an dessen Ende ein „eleganter Tod“ und wahrhaftige Prinzessinnenhaftigkeit stehen sollen. Beschützt wird sie zunächst durch ihren Talisman, den sie aber bald verliert.

Die Geschichte vom armen Mädchen, das zur in Gold und Silber gehüllten Prinzessin wird, ist bis zu einem gewissen Grad auch ihre eigene, zumindest legt die Filmemacherin Uldus Bakhtiozina diese Lesart halb ernst, halb scherzhaft nahe. Die 1986 in Leningrad, heute Sankt Petersburg, geborene Halb-Tatarin, wie sie betont, ist selbst Tochter eines Fischers. Sie studierte Politikwissenschaft und Grafikdesign und ließ sich in Street-Style-Fotografie ausbilden. Sozialisiert durch Märchenverfilmungen aus sowjetischer Zeit, die den uralten Geschichten neue, systemkonforme Überschreibungen angedeihen ließen, stieß sie irgendwann auf die Überlegungen des Mythenforschers Wladimir Propp und die „Archetypen“-Theorie des Psychoanalytikers Carl Gustav Jung: Die jeweiligen Regime – Christen, Kommunisten, Kapitalisten - vereinnahmen die alten Märchen jeweils für sich, es bleiben aber unveränderliche Konstanten darin gespeichert. Wer diese Muster und deren Varianten kennt und erkennt, schafft es womöglich leichter, auch die Erzählung zu hinterfragen, die er oder sie sich von sich selbst erzählt. In London, wo sich Uldus Bakhtiozina mit offenbar ziemlich frustrierenden Kellnerinnen-Jobs das Studium finanzierte und Freunde sie mit Russen-Klischees nervten, habe ihr die Vorstellung geholfen, lediglich eine Rolle in einem Film zu spielen. So begann sie auch ihr fotografisches Werk: mit „ironischen Selbstporträts“. Da hält sie Pappschilder voller Stereotype hoch, auf denen „Ich liebe Wodka“ steht oder die grundsätzliche Heiratswilligkeit russischer Frauen behauptet wird.

Oft schillert potenziell Ekelhaftes in schönster Pracht und kippt Prunkvolles in latent Abstoßendes.

Märchenhaftes und Autobiografisches verbinden sich in DOCH RYBAKA zu einem Netz aus Motiven und Atmosphären, die bereits auch Bakhtiozinas fotografisches Schaffen unverkennbar machen. Aus den anfangs provokant plakativen Selfies – immer mit Analog-Kamera aufgenommen – entwickelte sie bald schon ihren rätselhaften, handwerklich aufwändigen Stil, der auf den ersten Blick an Matthew Barney oder Alexander McQueen erinnert, dennoch eine unverwechselbare Signatur besitzt: Sie nennt es „Tataren-Barock“. Angelehnt an Prunkstillleben und Porträts des 16. und 17. Jahrhunderts, unter Rückgriff auf bauschige Gewänder samt Kokoschnik, einem ausladenden russischen Kopfschmuck für Frauen, inszeniert sie ihre Modelle in selbst entworfenen und gefertigten Kostümen in befremdenden Situationen, gehüllt in die starken Symbolfarben Gold, Grün, Weiß und Rot. In der Fotoserie „Russ Land“ etwa dreht eine „Productive Housekeeper“ genannte Frau rohes Fleisch durch den Wolf, statt Hack kommt goldenes Lametta heraus. Oft schillert potenziell Ekelhaftes in schönster Pracht und kippt Prunkvolles in latent Abstoßendes. Manchmal weisen aber auch Kalauer den assoziativen Weg: Da kann aus dem anabolischen „Iron Man“ ruckzuck ein „Ironing Man“ werden, ein Bügelnder, mit „Irony“ als buchstäblicher Brücke.

Anderssein sei schwierig, besonders in Russland, sagte die in einer christlich-muslimisch-jüdischen Familie aufgewachsene Bakhtiozina 2014 im ersten ihrer beiden TED-Vorträge: „Ironie ist der Schlüssel!“ Damals war sie die erste russische Speakerin überhaupt auf einer TED-Konferenz (2017 sprach sie dort noch einmal). Die BBC zählte sie 2014 zu den 100 Frauen, die die Welt zum Besseren verändern. 2016 ernannte die Vogue Italy Bakhtiozina zur „Best Young Fashion Photographer“. Ihre Arbeiten werden weltweit ausgestellt, Museen und Galerien nahmen sie in ihre Sammlungen auf, wie das Fabergé-Museum in Sankt Petersburg oder die Tretjakow-Galerie in Moskau.

Fast verwunderlich, wie treu sich die Künstlerin auch in ihren Arbeiten für Modelabels bleibt, wo sie ebenfalls vom Make-up über das Kostüm bis zum Setting oftmals alles selbst gestaltet. In ihren Inszenierungen von Taschen oder Kleidern scheinen sich die Figuren am Ende eines unerklärlichen Ereignisses zu befinden. In altmodisch eingerichteten Wohnungen mit schweren Teppichen und alten Schränken halten sie babygroße goldene Uhren im Arm, hantieren mit Wählscheiben-Telefonen oder fahlen Weintrauben, groteske Massen an Perlenketten hängen ihnen vom Hals bis zum Boden. Farbigkeit und Stofflichkeit wirken oft wie fermentiert, alt, aber auf unheimliche Art intakt. Albtraumartig krümmen sich die Räume durchs Fischaugen-Objektiv, Dinge passen nicht zueinander oder sind tot-lebendig in Aspik oder in Eis fixiert. Die Frauen (und wenigen Männer) nehmen bizarre Haltungen ein, stehen Kopf oder wirken verdreht. Auch die Jahreszeiten spielen verrückt: Der behauptete Sommer passt nicht zum gezeigten sibirischen Winter; die Kleider sitzen, aber Körperteile verrutschen, wie in einem Zirkus tummeln sich Kopflose, Dreibeinige und siamesischen Zwillinge. 

Traum-Dokumentationen

Ihre Arbeit bestehe darin, Umstände für ihre Modelle zu schaffen, die diesen die Erfahrung ermögliche, „jemand anderes sein zu können“, sagt Bakhtiozina. Sie lichte sie genau in dem Moment ab, „in dem sie wirklich glauben, jemand anderes zu sein“. Kein Foto werde digital bearbeitet, alles, was zu sehen sei, müsse also „in der Realität vorhanden sein“. Eigentlich sei sie Dokumentarfotografin, aber auf andere Art: „Ich dokumentiere Träume.“ In den betörendsten Aufnahmen werden die Modelle zu Figuren zwischen Selbstbewusstsein und Selbstvergessenheit: Sie liegen wie mit offenen Augen träumend in dunklem Wasser, aus dem fremde Hände freundlich oder bedrängend sie betasten; große weiße Motten schmücken wie seidene Diademe ein Mädchen mit mattweißem Haar, das sind die sagenhaften „Flüsse aus Milch“, von denen in russischen Märchen die Rede ist. Die Wirkung dieser Bilder erschöpft sich aber weder im Witz noch in den philologischen Erläuterungen, die Bakhtiozina dazu liefert. Sie sind narrative Palimpseste, Schicht für Schicht durchdrungen von der jeweiligen Geschichte ihrer Modelle, die sie „Überlebende“ nennt: Angelehnt an ein Gemälde von Jacques Le Moyne de Morgues (um 1533 – 1588) verwandelt sie zum Beispiel eine todkranke junge Frau in eine stolze Kriegerin. Aufsehen erregten 2019 ihre Kostüme und ihr Make-up fürs Londoner Royal Opera House zum Ballett „Aisha and Abhaya“, auch in diesem Stück geht es um Überlebende, Gestrandete.

Uldus Bakhtiozina castet ihre Modelle – auch sie schlüpft nach wie vor in Rollen – oft aus ihrem eigenen Umfeld, es seien Menschen mit einer „interessanten Geschichte“, erklärte sie in ihrem TED-Vortrag von 2017. In geschmeidiger Konsequenz führte die Ereignishaftigkeit ihres fotografischen Werks also zum bewegten Bild und zu einer Filmerzählung über das „eigene Gesicht“. Bakhtiozinas Bildkosmos handelt dabei weniger von den zu bewahrenden Grenzen der Identität als von ihrer Entfaltung, von der immer wieder neu auszuhaltenden Spannung zwischen der Sehnsucht nach Einzigartigkeit und überlieferten Mustern; sie erzählt vom schöpferischen Ich, das nicht auf dem Eigenen beharrt, sondern immer auch eine Andere/ein Anderer zu sein vermag.

Am Offenen, am Hafen beginnt und endet DOCH RYBAKA. In einer Imbissbude, im Zeitlosen, am Nicht-Ort. Dort, wo komische Gerüche und Dialoge wie versunkene oder künftige Epochen wehen, findet sich, wie im Märchen, Unverhofftes, vielleicht sogar das Verlorene.

 

Cosima Lutz lebt in Berlin und arbeitet als Filmkritikerin für verschiedene Print- und Online-Medien wie Die Welt und Filmdienst.

Zurück zum Film

Gefördert durch:

  • Logo des BKM (Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien)
  • Logo des Programms NeuStart Kultur