Die Grundkonstellation von ESQUÍ (SKI) bringt vielleicht das bizarre Interview in der Mitte des Films mit einem im patagonischen Skizentrum Bariloche ansässigen Bewohner eines Armutsviertels am besten auf den Punkt, das die Interviewerin in einem für Südamerika fremdartigen Yeti-Kostüm führt. Wie können sich die Bewohner*innen einer Provinzstadt im abgelegenen südlichen Argentinien versöhnen mit dem Luxus-Massentourismus rund um die Skiressorts, der in den Wintermonaten wie ein fremdartiges Monster die Stadt fest im Griff hat? Hier zeigt der Film, wie soziale Projekte auch Kinder der ärmeren Viertel an den Skisport heranführen oder wie lokale Handwerker mit regionalen Produkten Skier anfertigen. Doch jenseits dieses Konflikts um den Skitourismus legt der Film – gleich anfangs – eingestimmt durch die Musik der trutruka, ein Horninstrument des indigenen Volkes der Mapuche – den tieferliegenden Konflikt um die koloniale Enteignung indigenen Lands und die daraus resultierenden aktuellen Konflikte um Land und Anerkennung offen. Und so wird die Kleinstadt Bariloche nicht nur vom Yeti, sondern auch von Unwesen aus der mythischen Welt der Mapuche, wie dem Lafquen trilque, heimgesucht. Dieses Unwesen lebt im an Bariloche angrenzenden Nahuel Huapi-See und hat die Besonderheit, dass es zunächst mit seinen Kuhhörnern ganz harmlos wirkt und so seine ahnungslosen Opfer anzieht, doch wenn diese sich dem Wasser nähern, offenbart sich der böse Charakter und sie werden von dem Ungeheuer angegriffen, an den Grund des Sees gezogen und verschlungen. Und mit ebendieser Harmlosigkeit des Skisports auf idyllischen, sonnigen Pisten beginnt dieser Film, um uns dann in die Tiefe der in Argentinien noch vollkommen unzureichend aufgearbeiteten Geschichte der gewaltsamen Kolonialisierung des Südens und der heutigen Folgen hinunterzureißen.
Die Touristifizierung von Bariloche
Bereits Ende des 19. Jahrhunderts wurde für die Region um den Nahuel Huapi-See der Vergleich mit den Landschaften der Schweiz als ein patagonischer Mythos eingeführt. Auf der Grundlage einer Schenkung des argentinischen Entdeckers Francisco P. Moreno von 1903 wurde 1922 rund um den Nahuel Huapi-See der erste argentinische Nationalpark, zunächst Parque Nacional del Sudgenannt, eingerichtet. 1934 wurde unter der Leitung des konservativ-aristokratischen Politikers Exequiel Bustillo dann eine nationale Nationalparkbehörde (Dirección de Parques Nacionales, DPN) – die erste in Lateinamerika – eingerichtet. Hauptziel dieser Behörde war allerdings nicht der Naturschutz, sondern die Erschließung und Touristifizierung der Region. Dabei ging es vor allem um den Ausbau von Luxustourismus, wie der Bau des Hotels Llao-Llao ebenso deutlich macht, wie die spätere Einführung des damals elitären Skisports. Auch als Sommerresidenz war die Region schon gefragt, so erholt sich der Multimillionär Bustillo regelmäßig in seiner Villa am Nahuel Huapi-See. Das Prestigeprojekt der DPN war die praktische Neuerrichtung der Stadt San Carlos de Bariloche, das ganz in einem alpin anmutenden, rustikalen Architekturstil als Touristenzentrum erbaut wurde.
Die Nationalparkbehörde nahm 1936 den österreichisch-deutschen Skifahrer Hans Nöbl unter Vertrag, um das Skizentrum in Bariloche aufzubauen. Verärgert zog sich daraufhin Otto Meiling zurück, der den Posten für sich beansprucht hatte. Meiling war ein deutschstämmiger Bewohner Bariloches und Mitgründer des Club Andino in Bariloche (ein Pendant des Deutschen Alpenvereins), der mit Hans Hildebrandt 1930/31 einen Touristenführer für die Region veröffentlichte und der als Bergführer und Skilehrer arbeitete.
Traurige Berühmtheit erlangte der Tourismusort dadurch, dass er zu einem Rückzugsort für Nazi-Kriegsverbrecher, wie kurzeitig Josef Mengele und vor allem Erich Priebke, wurde.
Während Meiling das Skizentrum an dem nach ihm benannten Cerro Otto aufbauen wollte, wählt Nöbl den Cerro Catedral. Die weitere Vermarktung des Skizentrums Bariloche durch die Nationalparkbehörde orientierte sich dann immer weiter an deutschen Vorbildern, die durchaus auch mit einer nationalsozialistischen Ästhetik verbunden waren. So kommt mit Gustav „Guzzi“ Lantschner ein österreichisch-deutscher Skifahrer nach Bariloche, der bereits in dem von Leni Riefenstahl gedrehten Bergfilm DER WEISSE RAUSCH mitspielte. Für die DPN dreht Lantschner 1954, diesmal als Regisseur, den hieran angelehnten Spielfilm CANCIÓN DE LA NIEVE.
Diese deutsche Präsenz in Bariloche ging bereits auf die Gründung der Stadt durch deutsche Siedler zurück, die aus dem benachbarten Chile an den Nahuel Huapi-See kamen. Traurige Berühmtheit erlangte der Tourismusort dadurch, dass er zu einem Rückzugsort für Nazi-Kriegsverbrecher, wie kurzeitig Josef Mengele und vor allem Erich Priebke, wurde und die dortige deutsche Gemeinschaft, darunter auch Otto Meiling, nicht nur früh die Nationalsozialisten unterstützten, sondern bis in die neunziger Jahre nationalsozialistische Sympathien offen zur Schau stellten. Filmisch aufgearbeitet wurde dies vor allem durch den aus Bariloche stammenden Regisseur Carlos Echeverría in PACTO DE SILENCIO (2006) über Erich Priebke und den Kurzfilm EL GRINGO LOCO, INVIERNO EN LA PATAGONIA (1984) über Otto Meiling. Spekulationen, dass Adolf Hitler seinen Freitod nur vorgetäuscht hatte und stattdessen mit Eva Braun nach Bariloche floh, sind natürlich in das Reich der Mythen zu verweisen – zeigen aber die Bedeutung, die Bariloche für Nazi-Kriegsverbrecher hatte.
Der Mapuche-Konflikt
Bariloche und der die Stadt umgebende Nationalpark Nahuel Huapi liegen in einer Region, die bis Ende des 19. Jahrhunderts von dem indigenen Volk der Mapuche bewohnt wurde. Die Mapuche konnten von den spanischen Kolonialherren nicht bezwungen werden; sie wurden erst 1881 in einer konzertierten Aktion der argentinischen und chilenischen Militärs besiegt. Unter General Julio Argentino Roca wurde in der Region die sogenannte „Conquista del Desierto“, eine blutige Militärkampagne mit genozidären Tendenzen durchgeführt.
Damit war diese Region, in die es bis zu Beginn der dreißiger Jahre weder Straßen noch Eisenbahnverbindungen gab, allerdings noch nicht erschlossen. Hier setzt Exequiel Bustillo mit der Nationalparkbehörde an. Er begriff den Nationalpark als „wahres Instrument der Kolonialisierung“ – nur ging es eben nicht mehr um Agrarkolonisation, sondern um Touristifizierung. Bustillo verehrte Roca und setzte ihm auf dem Hauptplatz in Bariloche ein Denkmal, das – bis heute – auch Kolonialisierung der Region auch symbolisch zum Ausdruck bringt.
In diesem Sinne wurden die indigenen Mapuche, die zudem oft auch aus Chile über die Grenze nach Argentinien geflohen waren, zunehmend aus dem Park vertrieben. Dennoch konnten sich Mapuche sowohl im Nationalpark als auch in den – für Tourist*innen kaum sichtbaren – urbanen Armutszonen rund um den touristischen Kern von Bariloche behaupten, die in ESQUÍ zu sehen sind. Gerade auch in Bariloche setzen im 21. Jahrhundert neue Organisationsprozesse einer zunehmend erstarkenden indigenen Bewegung der Mapuche ein. Bis zum heutigen Zeitpunkt sind die mit der Kolonisation und der Parkgründung verbundenen Landkonflikte gewaltgeladen.
Ein Verdienst von ESQUÍ besteht darin, die schöne aristokratische Scheinwelt in Argentinien im Allgemeinen und in Bariloche im Besonderen aufzubrechen.
Bei der Räumung einer Landbesetzung am Lago Mascardi erschoss das Sonderkommando „Albatros“ der argentinischen Marine am 27. November 2017 den 22-jährigen Mapuche Rafael Nahuel. Im August des gleichen Jahres starb der Menschenrechtsaktivist, Santiago Maldonado, der sich an Protestaktionen der Mapuche gegen die Usurpation von Land durch die Modekette Benetton richteten, nach einer Polizeiaktion unter dubiosen Umständen. Der Fall Maldonado, dessen Leichnam erst nach mehreren Monaten im Rio Chubut gefunden wurde, erregte in Argentinien und international große Aufmerksamkeit, da er für die Menschenrechtsbewegung als erster, aus politischen Gründen „Verschwundener“ nach dem Ende der Militärdiktatur gilt. Die zunehmende Gewalt wird vor allem dem konservativen Präsidenten und Vertreter der Oligarchie Maurico Macri (2015-2019) angelastet, der die Linksregierung von Cristina Fernández de Kirchner abgelöst hatte.
Trotz der Repression ist der Organisationsprozess für die im Nationalpark Nahuel Huapi ansässigen Mapuche partiell erfolgreich. So ist die Comunidad Wiritray am Mascardi-See die erste indigene Gemeinschaft, die im Inneren des Nahuel Huapi Parks 2000 offiziell anerkannt wurde. Weitere vier indigene Gemeinschaften folgten. Sicherlich trägt die Tatsache, dass es sich bei diesen Landkonflikten um staatliches Land im Nationalpark handelt und somit der Staat als Hauptakteur politisch auf die Konflikte reagieren muss, dazu bei, dass gerade in dieser Region die Frage der Anerkennung der Rechte der Mapuche auf der politischen Tagesordnung steht.
Damit besteht ein Verdienst von ESQUÍ genau darin, die schöne aristokratische Scheinwelt in Argentinien im Allgemeinen und in Bariloche im Besonderen aufzubrechen und ein Angebot zu machen, sich mit der unheimlichen und dunklen Seite der Geschichte auseinanderzusetzen. Denn die Unwesen und Gespenster der Vergangenheit sind noch höchst lebendig, wie die Heimsuchung durch Lafquen trilque zeigt.
Olaf Kaltmeier ist Profesor für Iberoamerikanische Geschichte an der Universität Bielefeld und Direktor des Maria Sibylla Merian Center for Advanced Latin American Studies (CALAS).
Weiterführende Literatur:
Olaf Kaltmeier: Nationalparks von Nord bis Süd. Eine transnationale Verflechtungsgeschichte von Naturschutz und Kolonialisierung in Argentinien, Bielefeld, Kipu-Verlag, 2020.