Ich hatte das Silvesterfeuerwerk der vorangegangenen Nacht noch in den Ohren, als ich an einem regnerischen Januarmorgen beschloss, JAI JUMLONG zu drehen. Nachdem ich fast ein ganzes Jahrzehnt damit zugebracht hatte, meinen zweiten Spielfilm zu schreiben, zu drehen und mit dem fertigen Film auf Reisen zu gehen, war ich fest entschlossen, diesmal eine Woche zu drehen, zwei Wochen zu schneiden und den Film so schnell wie möglich unter die Leute zu bringen. Mir schwebte damals etwas Kleines vor, eine Produktion, die beweglich bleiben und Improvisation ermöglichen sollte.
Durch die Beschränkung auf ein sehr kleines Budget konnte ich auf die oftmals strapazierenden und zeitaufwändigen Bewerbungen für Drehbuchwerkstätten, Entwicklungsprogramme und auf die übliche Finanzierung verzichten, auf was auch immer die globale Industrie für unabhängiges Filmschaffen den Regisseur*innen abverlangt. Mit einigen kleinen Spenden und dem Geld, das meine Produktionsfirma von einem früheren Projekt übrigbehalten hatte, konnte ich den Film einfach drehen, ohne Drehbuch, ohne konkreten Produktionsplan, sogar ohne einen festgelegten Plot. Wir drehten nur fünf Tage.
Nach dem Dreh nahm ich eine Stelle als Gastdozentin an der Harvard University an. Ich hatte eigentlich vor, den Film während der ersten Wochenenden in Boston zu schneiden und 2019 herauszubringen, aber dann kam alles anders, und es sind drei Jahre vergangen. In diesen drei Jahren habe ich nicht nur geheiratet, ich bin auch Mutter geworden und wieder zurück nach Thailand gezogen – und ich habe einen Spielfilm gedreht, geschnitten und herausgebracht, der nichts mit JAI JUMLONG zu tun hat. Ich habe keine Ahnung, wie in so kurzer Zeit so viel passieren konnte.
Aber jetzt ist er endlich da, mein kleiner improvisierter Film. Da ich gebeten wurde, ein paar Zeilen über ihn zu schreiben, will ich versuchen, mir in Erinnerung zu rufen, was mir durch den Kopf ging, damals, als ich beschloss, ihn zu drehen.
Moderne Formen der Sklaverei sind in Thailand nach wie vor präsent, mir kommen die vielen Hausangestellten in den Sinn, die oft ethnischen Minderheiten angehören, aus ländlichen Gegenden kommen oder aus den Nachbarländern Laos und Myanmar zugewandert sind.
Alles begann 2015 mit einer Reise in eine an der Grenze zu Myanmar gelegene Provinz Thailands. Die Provinz ist vor allem für ihre touristischen Attraktionen bekannt: Wasserfälle, Floßhäuser, Tamarinden. Während des Zweiten Weltkriegs gab es hier aber auch ein Arbeitslager. Ich glaube, die Initialzündung war eine Wanderung an einer Eisenbahnlinie entlang, die von zivilen Zwangsarbeiter*innen aus Südostasien und alliierten Kriegsgefangenen – Japan hielt Thailand während des Kriegs besetzt – in den Fels gemeißelt worden war. Infolge der Arbeitsbedingungen – die Menschen wurden gefoltert, misshandelt, vernachlässigt – kamen 90.000 Zivilist*innen und 12.000 Kriegsgefangene ums Leben.
Siebzig Jahre nach den Gräueltaten waren sie noch immer zu erkennen, die Spuren, die Hunderttausende von Menschen, die mit ihren Werkzeugen Tunnel durch die Berge gruben, im Fels hinterlassen hatten; junge Paare und Familien schlenderten die Trasse entlang, hielten Händchen, machten Selfies, lächelten.
Etwa ein Jahr später sah ich AUSTERLITZ (2016), einen Dokumentarfilm von Sergei Loznitsa. Darin geht es um die Besucher*innen einer KZ-Gedenkstätte. Loznitsa stellt die scheinbar simple und doch beunruhigende Frage: Wonach suchen diese Menschen? Als ich in Thailand die jungen Paare beobachtete, die die Bahnstrecke entlangspazierten, ging mir durch den Kopf, dass sich Zwangsarbeit nicht auf Geschichtsbücher und schon gar nicht auf die Zeit der japanischen Kolonisierung beschränkt. Moderne Formen der Sklaverei sind in Thailand nach wie vor präsent, mir kommen die vielen Hausangestellten in den Sinn, die oft ethnischen Minderheiten angehören, aus ländlichen Gegenden kommen oder aus den Nachbarländern Laos und Myanmar zugewandert sind. Für die meisten Bewohner*innen meiner Heimatstadt Bangkok gehören diese Menschen zum Alltag. Sie kochen für uns, sie bauen unsere Häuser. Die Missachtung von Arbeitsrechten ist so allgegenwärtig, dass diejenigen Menschen, die Zwangsarbeiter*innen beschäftigen, vermutlich nicht einmal wissen, dass sie etwas Ungesetzliches und Unmoralisches tun.
Am Ende ist ein Film entstanden, in dem es um das Bemühen geht, Definitionen zu widerstehen, und darüber, wie besessen das Kino von solchen Festlegungen ist. Ein Film über Schauspieler*innen, die Figuren repräsentieren, die Menschen repräsentieren, die Geschichte repräsentieren.
Auf dem Gleisbett stehend dachte ich über moderne Formen von Zwangsarbeit nach und begriff, dass zwischen dem Leid der Zwangsarbeiter*innen von heute und damals eine Verbindung besteht. Wie viele Herabwürdigungen kann ein Körper aushalten, bevor er zusammenbricht? Wie viel Gewalt, Chaos, Tod und Wahnsinn kann ein Menschenleben aushalten? Die Geschichte wiederholt sich, dachte ich angesichts dieses Ortes, der für die grenzenlose Grausamkeit der Menschen steht, und angesichts unserer kollektiven Geringschätzung für das Leben der arbeitenden Klasse – und genau in diesem Moment bat mich ein junger Mann, ihn und seine Freunde zu fotografieren.
Politisches Kino zu machen ist kompliziert. Ich habe keinen Film über Sexarbeiter*innen, Versklavte oder Kriegsgefangene gedreht. Ich wollte einen Film über die Repräsentation des Politischen im Kino machen. Aber auch das ist mir nicht gelungen. Ich bin hängengeblieben an etwas, das elementarer ist. Was sich nicht überwinden ließ, war die Repräsentation an sich – obwohl ich mir nicht sicher bin, ob das der richtige Begriff ist. Am Ende ist ein Film entstanden, in dem es um das Bemühen geht, Definitionen zu widerstehen, und darüber, wie besessen das Kino von solchen Festlegungen ist. Ein Film über Schauspieler*innen, die Figuren repräsentieren, die Menschen repräsentieren, die Geschichte repräsentieren.
Vor dem fünftägigen Dreh haben wir Workshops gemacht. Ich habe den Schauspieler*innen keine Rollen zugewiesen. Stattdessen haben sie die Rollen fortlaufend gewechselt, so dass alle Schauspieler*innen alle Rollen spielten. Sobald wir zu drehen anfingen, war klar, wer vorwiegend welche Rolle spielen würde.
Übersetzung: Gregor Runge