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Der Film LA DIALECTIQUE PEUT-ELLE CASSER DES BRIQUES? („Kann die Dialektik Ziegel zerschlagen?“) aus dem Jahr 1973 zählt zu den Höhepunkten der situationistischen Kinopraxis. Rene Vienet versah den Martial-Arts-Film THE CRUSH von Khuang-chi Tu mit einer neuen Tonspur, die aus einem Kung-Fu-Spektakel eine Form des Klassenkampfs machte. Der antikoloniale Aufstand in Korea, von dem in dem Hongkong-Film erzählt wird, wird „umgeleitet“ (der situationistische Begriff für diese Strategie lautet détournement) auf die politischen Kämpfe in der Folge von 1968. Der Klassenkampf in Europa und die Befreiungskämpfe gegen koloniale Herrschaft und Imperialismus in Ländern der damals so genannten Dritten Welt bildeten in den frühen siebziger Jahren einen komplexen Zusammenhang, in dem viele Intellektuelle nach ihrer Position suchten. Der Philosophiestudent Omar Blondin Diop war einer von ihnen, der Filmemacher Jean-Luc Godard ein anderer. Ihre Wege hatten sich 1967 gekreuzt, als Godard mit seiner damals neuen Partnerin Anne Wiazemsky einen Film über die Studierenden an der Universität Nanterre drehen wollte. Godard wollte „die Bewegung filmen“, heißt es in Vincent Meessens essayistischem Dokumentarfilm JUSTE UN MOUVEMENT (JUST A MOVEMENT), aber die Bewegung wollte von ihm nicht gefilmt werden.

Ein senegalesischer Aktivist in Paris

Der Spielfilm LA CHINOISE (1967) von Godard ist eine Reaktion auf das Scheitern des dokumentarischen Projekts: Eine Gruppe von jungen Leuten bereitet sich in einer großbürgerlichen Wohnung in Paris auf revolutionäres Engagement vor und diskutiert die Gewaltfrage, einer hält einen Vortrag über Marxismus. Es ist Omar Blondin Diop, ein Student aus dem Senegal, der inmitten des Pariser Mais 1968 nach dem richtigen Ort für sein eigenes Engagement suchte. Frankreich klärte diese Frage 1969 mit einem feindseligen Akt: Omar Diop wurde ausgewiesen. Er kehrte allerdings 1969 aus Dakar noch einmal nach Paris zurück, entschied sich dann aber 1971 für den politischen Widerstand im Senegal nach dem Vorbild der amerikanischen Black Panther Party. Er fuhr über die Türkei nach Syrien, um dort mit palästinensischen Fedajin eine militärische Ausbildung zu absolvieren. Die nächste Station war Algier, wo die Black Panthers zu diesem Zeitpunkt ein Hauptquartier hatten. Nach der Rückkehr in den Senegal wurde Omar Diop unter dem Vorwurf einer terroristischen Verschwörung festgenommen und auf der Insel Gorée vor Dakar (bekannt für ihre strategische Rolle in der Geschichte der westafrikanischen Versklavung) inhaftiert. 1973 starb Omar Diop im Gefängnis unter bis heute nicht vollständig geklärten Umständen.

Sein Aufenthalt bei den Fedajin 1971 hat eine Parallele in der Biografie von Godard, der 1970 in Jordanien und im Westjordanland mit einem Revolutionsfilmprojekt scheiterte. Er wollte den bewaffneten Kampf der Fedajin gegen Israel als ein „neues Vietnam“ begreifen (entsprechend der Parole von Che Guevara, es gelte, „zwei, drei, viele Vietnams“ zu schaffen). 1973, als Omar Diop starb, arbeitete Godard gemeinsam mit seiner Partnerin Anne-Marie Miéville gerade an ICI ET AILLEURS, der schließlich erst 1976 herauskam, und in dem er die Aufnahmen aus den palästinensischen Gebieten verarbeitete. Die Fragen, die sich damals für Godard, für Omar Diop oder für den situationistischen Sinologen Rene Vienet stellten, stellen sich heute in entsprechender Form auch für Vincent Meessen, einem in Belgien lebenden Filmkünstler, der sich in seinen Arbeiten immer wieder mit Afrika beschäftigt. Wie schon 1967 oder 1973 ist auch 2021 zu klären, wie sich bestimmte Kämpfe in die aktuellen geopolitischen Konstellationen eintragen lassen. Im Senegal bemüht sich die Bewegung Y’en a marre („Wir haben es satt“) seit 2012 darum, die Regierenden zu einer stärkeren Orientierung am Gemeinwohl zu zwingen.

China nimmt im Jahr 2021 eine vergleichbare Rolle zu der ein, die 1971 das postkoloniale Frankreich einnahm: eine Hegemonialmacht, die sich um soft power und um Rohstoffabschöpfung bemüht.

Einen Kontext für den Aktivismus stellt das Engagement der Volksrepublik China in Senegal dar: Der kommunistische Staat hat, wie Meessen in einer Szene zeigt, ein Museum gebaut, dessen Architektur auf Schlüsselwerke des afrikanisches Bauens Bezug nimmt, und das identitätsstiftend für den westafrikanischen Staat sein soll. China nimmt damit im Jahr 2021 eine vergleichbare Rolle zu der ein, die 1971 das postkoloniale Frankreich einnahm: eine Hegemonialmacht, die sich um soft power und um Rohstoffabschöpfung bemüht. Meessen zeigt auch eine Szene, in der Leopold Senghor, der Präsident des unabhängigen Senegal, bei einem Staatsbesuch des französischen Amtskollegen Georges Pompidou eine Rede hält, die sich wie eine Ergebenheitsadresse ausnimmt. Omar Diop war auch deswegen in Opposition zu Senghor, weil er einen anderen, radikaleren Weg aus der Kolonialität suchte.

Godard wiederum suchte mehrfach in kolonialen Kämpfen ein Szenario, das seinen ambivalenten Hoffnungen auf einen Zivilisationsbruch und einen politischen Neubeginn nach dem Vorbild von „Naturvölkern“, wie sie in seinem Film WEEKEND (1968) erkennbar sind, zu einer Konkretion verhelfen würde. 1967 war er mit einem Akkreditierungsversuch in Nord-Vietnam gescheitert. 1968 begab er sich in eine Region im hohen Norden von Kanada, um dort Arbeitskämpfe der lokalen Ureinwohner*innen agitatorisch zu begleiten. 1970 musste er einsehen, dass die palästinensischen Fedajin nicht das historische Subjekt waren, nach dem er suchte. 1977/78 unternahm er einen letzten Versuch, in eigener Person ein außereuropäisches Engagement einzugehen: gemeinsam mit Anne-Marie Miéville begab er sich nach Mozambique, um in der ehemaligen portugiesischen Kolonie ein progressives Staatsfernsehen aufzubauen.

Vincent Meessen steht mit seinem Film über Omar Blondin Diop nicht zuletzt vor der Herausforderung, diese Konstellation zu überwinden: Ein europäischer Intellektueller identifiziert sich mit einem postkolonialen Projekt und muss die Unmöglichkeit oder den eigenen Unwillen anerkennen, die Seite zu wechseln. JUSTE UN MOUVEMENT konnte aber auch nicht einfach ein Film über Omar Blondin Diop werden, wenngleich er durchaus auch die Aufgaben einer Biographie erfüllt. Für Meessen werden die Orts- und Positionswechsel von Omar Diop, in Verbindung mit den Veränderungen der geopolitischen Großkonstellation, zu einem Formprinzip seines Films. Der Schlüssel ist dabei die Rolle der Volksrepublik China.

Schlüsselrolle Chinas

Für Godard wie für Omar Diop war China in den späten sechziger Jahren ein wichtiger Faktor bei den Verortungen innerhalb der komplexen Ausdifferenzierungen des Marxismus-Leninismus. Die Sowjetunion war als politisches Vorbild (spätestens nach dem Ende des Prager Frühlings, im Grunde aber schon seit den Enthüllungen über die Verbrechen Stalins) nicht mehr geeignet. Das China von Mao Tse-Tung hingegen gab gerade mit der Kulturrevolution ein Vorbild (ohne dass man sich in Europa von den Gräueln dieser Ära ein hinreichendes Bild machte). Der Maoismus wurde zu einer vorherrschenden politischen Ideologie in der Studentenbewegung nach 1968. Ungeklärt blieb dabei aber weiterhin die Rolle von postkolonialen Nationalstaaten und Unabhängigkeitsbewegungen im globalen Süden.

Rene Vienets LA DIALECTIQUE PEUT-ELLE CASSER DES BRIQUES? wird von Meessen wohl auch deswegen zitiert, weil er (gegen seine ursprüngliche Intention) zu einem Moment des Übergangs wurde: An China ist seither nicht so sehr das politische Modell an sich attraktiv geworden, das auch kaum mehr als links oder als kommunistisch begriffen werden kann, sondern bestimmte Aspekte seiner populären Kultur. So bietet zum Beispiel das Konfuzius-Institut in Dakar Kampfkunst-Kurse an, setzt also gerade auf das als ein nationales Charakteristikum, was Vienet zum Gegenstand seines détournements machte. In einer höchst pointierten Szene hält eine senegalesische Frau namens Awa im Konfuzius-Institut auf Mandarin einen Vortrag über die Bedeutung des Marxismus Althussers für Godards LA CHINOISE, also für ein CINEMAO, wie es in einem Graffiti heißt, das in Dakar eine Inschrift aus dem Pariser Mai 1968 aufgreift.

Es ist wiederum eine junge Expat-Chinesin, deren Eltern in Dakar einen Laden betreiben, die gleichsam im Namen von Meessen den Ort besucht, um den JUSTE UN MOUVEMENT letztlich kreist: die Insel Gorée, das Gebäude, in dem Omar Diop gefangen gehalten wurde und schließlich getötet wurde, wie seine Freunde annehmen. Senegal wurde durch den Mord an Omar Diop vergleichbar mit der Demokratischen Republik Kongo, heißt es im Film. Senghor verhielt sich „wie Mobutu“, also wie Mobutu Sese Seko, der langjährige Diktator in Kongo/Zaire, der seine Macht einem politischen Mord verdankte, an Patrice Lumumba, dem ersten Ministerpräsidenten der unabhängigen Republik Kongo.

Für Godard bot sich 1967 der Marxismus von Louis Althusser als Leitprinzip an, weil dieser sich durch eine radikale Offenheit auszeichnete. Er führte nicht zu der ideologisierten Bescheidwisserei, mit der die Studentenbewegung häufig in die Kämpfe von 1968 ging, sondern zu einer experimentellen Praxis, die, um Jacques Rancière zu paraphrasieren, elementarste Handlungen wiederentdeckt. Hier lassen sich die Körperübungen zur Erkundung des Tao in JUSTE UN MOUVEMENT einordnen („tausend Mal eine Bewegung machen“ verlangt geradezu nach der Umkehrung: Es braucht bloß eine Bewegung für eine politische Handlung)

In diesem Kontext kann man auch die experimentelle Wohngemeinschaft in Ephraim Asilis THE INHERITANCE sehen, der sich deutlich auf LA CHINOISE bezieht, allerdings auch in Form eines détournements. Dass der Name von Anne Wiazemsky auf dem Filmplakat in dem Haus in Philadelphia falsch geschrieben ist („Anne Wiamensky“), ist ein beiläufiges Detail dafür, dass das Erbe, von dem Asili spricht, eben nicht (jedenfalls nicht direkt) die cinemaoistischen (Irr)Wege von Godard und wohl auch Omar Diop sind (Tao bedeutet: der Weg), sondern dass ein konkreter Kontext - die urbanistisch-aktivistische afroamerikanische Bewegung MOVE in Philadelphia - einer neuen Generation einen Ausgangspunkt für neue Lektüren und neue soziale Praxen gibt. Mithin auch für eine neue Politik – im Senegal, in den USA, in Frankreich, in den palästinensischen Gebieten und vielleicht sogar eines Tages in der Volksrepublik China –, die nicht mehr wie in der Zeit von LA CHINOISE auf ideologisierter Suche nach dialektischen Konstellationen beruht, sondern auf kreativer Appropriation und auf Trauerarbeit um die Opfer früherer Kämpfe.

 

Bert Rebhandl lebt als freier Journalist, Autor und Übersetzer in Berlin.

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