Der in Brüssel lebende Künstler Vincent Meessen arbeitet in langen Wellenschlägen. JUSTE UN MOUVEMENT (JUST A MOVEMENT) hat verschiedene Vorfassungen: eine Buchpublikation, eine 2018 im Centre Pompidou ausgestellte Installation und einen 2019 auf Arte erstmals ausgestrahlter Dokumentarfilm. Meessen nennt JUSTE UN MOUVEMENT das „Porträt eines afrikanischen marxistischen Militanten und zugleich ein Essayfilm über Jean-Luc Godards LA CHINOISE – als Reprise“. Sein historisch vielfach geschichteter Film ist erzählerisch verschwenderisch in seiner erfindungsreichen Montage, die zwischen Zeiten und Räumen springt. Wie könnte man durch diesen Film, der im Sinne Godards seinem Machen im Verlauf zuschaut, einen Pfad schlagen?
Auf dem Friedhof fixiert ein Grabstein nackte Tatsachen: Omar Blondin Diop, geboren 18. September 1946 in Nigers Hauptstadt Niamey, gestorben 11. Mai 1973 auf der Sklaven- und Gefängnisinsel Gorée vor der senegalesischen Hauptstadt Dakar – 1946 gehörten Niger wie Senegal zum Kolonialterrain Frankreichs; 1973 ist der Senegal seit 13 Jahren nominell befreit. Im heutigen Dakar zeigt JUSTE UN MOUVEMENT durch ein Zugfenster den Wandspruch „Frankreich raus!“. Was bedeutet das Ende der offiziellen Kolonialzeit, wenn weiterhin von Seiten Frankreichs, aber auch den autokratischen Staatschefs frankophoner Staaten Afrikas ein ökonomisch wie militärisch befestigtes „Françafrique“ beschworen wird?
Schon als im Februar 1971 ein Kurzbesuch von Frankreichs Staatspräsident Pompidous in Dakar anstand, waren sich alle linken Gruppierungen im Protest gegen die Kontrolle Frankreichs über Senegal einig. Der zwischen Paris und Dakar pendelnde Philosophiestudent und spätere Militante Omar Diop ist dabei das zukunftsgewandte Gegenbild des senegalesischen Staatsoberhaupts Léopold Sédar Senghor. Beide Zeitgenossen verfolgten die Schritte des anderen genau, hatten hohe Affinitäten zum Pariser Intellektuellen-Milieu und trafen sich mit politisch Aktiven und Künstler*innen. Waren es bei Senghor die Staatspräsidenten de Gaulle und Pompidou sowie die Großmeister Picasso wie auch Hitlers Bildhauer Arno Breker, bewegte sich Omar im Kreis von Daniel Cohn-Bendit, Anne Wiazemsky und Jean-Luc Godard und studierte Foucault, die Situationisten und die Black Panther Party wie auch Deleuze/Guattari. Suchte der senegalesische Politiker-Schriftsteller mit französischem Pass das enge politische, ökonomische und militärische Bündnis mit Frankreich, will der Aktivisten-Boheme den Senegal dekolonisieren und zur Not auch mit Gewalt von der Herrschaft Frankreichs befreien. Am Ende stirbt Diop unter den Folterknechten Senghors.
Die Ablösung von Françafrique durch „Chinafrika"
Die Gefängnisinsel Gorée ist ein Symbol für die Verschleppung von Sklaven über den Atlantik. Der historische Ruf als bedeutender Ort der Sklavenverschiffung in die Amerikas gilt allerdings als widerlegt. Das Rundgebäude des Gefängnisses weist jedoch erstaunliche Parallelen auf zum gerade neueröffneten Museum der schwarzen Zivilisationen in Dakar. Meessens Film nähert sich vorsichtig der Baustelle der Firma „Shanghai Contruction“ und streift ganz nebenbei den Mercedes-Stern einer chinesischen Staatskolonne. Das Museum ist vom chinesischen Staat gebaut worden, um im Gegenzug die Rohstoffe des Senegals möglichst geräuschlos ausbeuten zu können.
„Das chinesische Volk unterstützt mit Nachdruck den gerechten Krieg des afrikanischen Volks“, lautet der zwischengeschnittene Kommentar aus LA CHINOISE. Nur war 1967 die Volksrepublik selbst ein bettelarmes und frisch befreites Land, während heute die Wirtschaftsinteressen einer aufstrebenden Weltmacht durch den Bau von Stadien, Bahnhöfen, Moscheen, Wohnungen oder Kulturbauten befördert werden.
Meessens Film folgt, und das macht ihn auch politisch so besonders, der allmählichen Ablösung von Françafrique durch „Chinafrika". Spätestens mit dem Anbruch des 21. Jahrhunderts hat die chinesische Regierung Rohstoffgewinnung rund um den Globus prioritär gesetzt, um in der Fabrik der Welt im Perlflussdelta sowie anderen Orten Chinas günstige Produkte für den Weltmarkt herzustellen zu können. Bis zu zwei Millionen chinesische Staatsbürger bewegen sich auf dem afrikanischen Kontinent. Weniger bekannt ist, dass sich umgekehrt bis zu einer halben Million afrikanischer Händler*innen, Dienstleister*innen, Staatsbedienstete und Studierende in China aufhalten.
Geschäftsleute sowie Individuen sind nicht mehr auf den Westen fixiert: Sie können zwischen Kreditgeber*innen wählen und die jeweiligen Konditionen abwägen; und sie können sich auch jenseits der „Festung Europa“ ihren Weg in die Welt bahnen.
Hat die globale Klasse der Bourgeoisie „durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet“, wie Marx/Engels es schon 1848 im Kommunistischen Manifest beschreiben, bewegen sich nun nicht mehr nur Topmanager entlang der ökonomischen Achsen der Globalisierung, sondern auch eigenständig agierende Kleinhändler*innen, Abenteurer oder Arbeitsmigrant*innen. Nationalregierungen, Geschäftsleute sowie Individuen sind nicht mehr auf den Westen fixiert: Sie können zwischen Kreditgeber*innen wählen und die jeweiligen Konditionen abwägen; sie erhalten Produkte und Dienstleistungen, die früher nicht erhältlich schienen; und sie können sich auch jenseits der „Festung Europa“ ihren Weg in die Welt bahnen. Chinafrika ist eingebettet in einen radikalen neoliberalen Marktprozess und zugleich auf der Suche nach einer „Dekolonialität“ (Walter Mignolo) jenseits westlicher Modelle.
Meessens Kameramann Vincent Pinckaers sitzt auf dem Rücksitz eines chinesischen Motorradfahrers und kurvt durch Dakar. Wir sehen einen chinesischen Laden, in dem Chinakohl gekocht wird – eine der wenigen von Chines*innen und Afrikaner*innen geteilten Speisen, die allerdings sehr unterschiedlich zubereitet werden. Das Händlerpaar führt ein Videotelefonat mit der Tochter Fi Lu in der Heimat: Sie soll ja nicht wieder nach Afrika zurückkehren, sondern sich schleunigst einen Partner in China suchen.
Später zeigt JUSTE UN MOUVEMENT eine senegalesische Muslima mit Schleier vor einer mit chinesischen und französischen Schriftzeichen gefüllten Tafel: Mame Awa Ly Fall ist Doktorin für chinesische Medizin und lebte zehn Jahre in China. Sie ist wie der senegalesische Tai-Chi-Professor und Kung-Fu-Champion Doudou Fall dem Konfuzius-Institut verbunden, welches weltweit chinesische Kultur verbreiten soll. Zigarrerauchend schaut Jean-Pierre Léaud aus LA CHINOISE im Zwischenschnitt den beiden zu. Ausgerechnet in einem Kino mit dem Namen Cinema Empire werden tänzerische Tai-Chi-Übungen auf der Leinwand gezeigt – „but it must be the just movement“, heißt es in einem eingeblendeten situationistischen Kung-Fu-Film. Sportler rennen im Kino im Kreis und rufen chinesische Motivationssprüche, die auch in Management-Seminaren gut ankommen würden.
Polykulturelle Lektüre jenseits simpler Identitätspolitiken
Vijay Prashad, Direktor des Tricontinental-Institute for Social Research, folgt im 2001 erschienen Buch „Everybody Was Kung Fu Fighting“ den Verbindungslinien von Bruce Lee und schwarzer Emanzipation. Der zwischen Delhi, Beirut und Northampton pendelnde Autor schlägt eine kosmo-politische Lektüre asiatischer Kampfsportarten vor: „Am Ende träumen in der Welt des Kung Fu Nicht-Weiße von einer Revolution der nackten Fäuste gegen die schwer bewaffnete Festung der weißen Vorherrschaft.“ Als Buce Lee 1973 mit ENTER THE DRAGON die Leinwände rund um den Globus eroberte, war der Vietnam-Krieg in seiner entscheidenden Phase angelangt: „Die Befreiung war nicht auf die Leinwand oder den Bildschirm beschränkt.“ In den US-Ghettos eröffneten widerständige Kung-Fu-Schulen, und die Black Panthers lehrten „schwarzen Maoismus“.
Prashad bietet eine anti-essentialistische und „polykulturelle“ Lektüre jenseits simpler Identitätspolitiken an. Das heißt, in einer Internationale des Widerstands zu denken und handeln, denn die „afroasiatischen und polykulturellen Kämpfe von heute ermöglichen es uns in der Tat, eine Vergangenheit zu erlösen, die von Historikern nach ethnischen Gesichtspunkten zerstückelt wurde“. Über die Kontinente hinweg verknüpft sich diese Erinnerungsarbeit mit Meessens Verwebungen.
In einer TV-Talkrunde sitzt der Polit-Rapper und Aktivist Malal alias Fou Malade. Später diskutiert er auf einer Zugfahrt mit Felwine Sarr, der gemeinsam mit Bénédicte Savoy im Auftrag des französischen Staatspräsident Emmanuel Macron den bahnbrechenden Bericht „Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter“ verfasst hat. Die beiden streiten über die Sinnhaftigkeit des neuen Zivilisations-Museums chinesischer Prägung. Es brauche – wie bei Vijay Prashad – konstante Wieder-Erfindungen und keinen statischen Rückbezug auf eine vergangene Identität, meint Sarr positiv gestimmt. „Aber machen wir nicht die gleichen Fehler, denn das Museum haben die Chinesen gebaut?“, beharrt Malal. In einer Rückblende blickt Fi Lu über Dakar hinweg auf den Hafen, wo sich die Container aus China stapeln. „Verkauft nicht Afrikas Zukunft!“, steht auf einer Banderole. JUSTE UN MOUVEMENT ist ein langer Wellenschlag über die Kontinente hinweg.
Jochen Becker (Berlin) arbeitet als Autor, Kurator und Dozent und ist Mitbegründer von metroZones | Center for Urban Affairs. Zuletzt kuratierte er Chinafrika. under construction (Graz, Leipzig, Weimar, Shenzhen, Nürnberg).