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Ein klassisches Beispiel von Simulation im Spielfilm ist die im Studio gefilmte Autofahrt. Für den jeweiligen Hintergrund sind Rückprojektionen zuständig; im Fahren gefilmte Außenaufnahmen von Städten, Straßen, Landschaften, die erst die Bewegung in das eigentlich starre Bild bringen. Die Unwirklichkeit dieser Bilder ist zumeist leicht zu erkennen – an übertriebenen Lenkbewegungen oder dem Schärfekontrast zwischen Rückprojektion und den Studioaufnahmen. Dennoch ist aus der Autofahrt mit Rückprojektion eine filmische Konvention geworden – die durch ihre Verwendung über die Zeit des klassischen Studiokinos hinaus, etwa in den Filmen von Claude Sautet, auch etwas über seine Geschichte als eine visuelle Standardsituation des Kinos erzählt. Die Künstlichkeit der Autofahrten zeigt dann weder Unvermögen noch zu kleine Budgets an, sondern ist lesbar als liebevolle Erinnerung an die Gemachtheit des Films selbst. Man kann sie anschauen wie ein groß gewordenes Kind, das verstanden hat, dass die Großmutter Märchen erzählt, und nicht enttäuscht ist über die eigene Desillusionierung, sondern berührt vom Erzählen an sich.

Diese lange Geschichte mit ihren wechselvollen Bewegungen zwischen dem Echten und Gemachten mündet in Susana Nobres NO TÁXI DO JACK (JACK’S RIDE). Die Exposition des Films setzt aus Bewusstsein für die Kinogeschichte noch einmal alle Hebel in Bewegung, um die Kunst vorzuführen, die hinter der im Studio gefilmten Autofahrt steckt: die Großaufnahme des leicht hoppelnden Gesichts eines Taxifahrers, der Blick auf dessen altertümlichen Taxameter, der genüsslich klackert, das dramatische, zugleich warme Rot, in das die echte Rückleuchte eines anderen Autos die Szene nie so schön tauchen könnte, dazu eine New Yorker Nacht mit ihrer Mischung aus Asphalt und Leuchtwerbung.

Die Autofahrt endet in Nobres Film in der Wirklichkeit des Filmstudios. Langsam entfernt sich die Kamera von der Frontscheibe, sie gibt den Blick frei auf die Einrichtung, auf die Rückprojektionswand, die Aufbauten fürs Licht und nicht zuletzt: die Schienen, auf denen sie sich selbst bewegt. Eine elegante Geste um das Feld zu markieren, auf dem in NO TÁXI DO JACK erzählt wird in der Umkehrung der Spielfilm-Autofahrt. Sollte dort mit künstlichen Mitteln Echtheit suggeriert werden, träumt hier die dokumentarische Geschichte in Bildern, die sie aus dem fiktionalen Kino hat.

Drei Filme inspiriert von einem Weiterbildungsprogramm

Den ehemaligen New Yorker Taxifahrer „Jack", Joaquim Calçada, und seine Geschichte kennt Susana Nobre aus ihrer Tätigkeit für ein großes staatliches Weiterbildungsprojekt: Das New Opportunities Programme wurde im Dezember 2005 in Portugal begonnen, um in dem Land Bildung zu vermitteln, das im europäischen Vergleich mit 8,2 Jahren pro Person die kürzeste Schulzeit aufzuweisen hat. Die Perspektive der Filmemacherin wird in NO TÁXI DO JACK gleich nach dem Ende der Autofahrt gezeigt: Man sieht, wie Susana Nobre eine Kamera neben sich an einem Schreibtisch aufbaut, vor dem Joaquim Calçada Platz nimmt.

Es ist die Perspektive, die einer ihrer früheren Filme konsequent durchhält. Die Filmemacherin war zwischen 2007 und 2011 für die Weiterbildungsmaßnahme tätig, um Lebens- und Bildungsgeschichten zu erfassen; sie hat den Job von vornherein und in Absprache mit der Behörde parallel für filmische Aufnahmen genutzt. Das wird in VIDA ACTIVA von 2013 unmittelbar anschaulich, dem ersten von drei Filmen, die aus Nobres Arbeit für das New Opportunities Programme hervorgegangen sind.

Joaquim Calçada wird als Jack zum lässigen Star eines Films, der die triste Wirklichkeit als etwas Größeres, Schöneres imagniert.

In VIDA ACTIVA sind die Bilder umstandslos dokumentarisch: Die Kamera neben Nobre ist so angebracht, dass sie die einzelnen Menschen vor dem Schreibtisch filmt – die Aufnahmen sind nicht so vollendet kadriert, dass sie wie in NO TÁXI DO JACK auf Bilder anspielen, die aus dem Spielfilm geläufig sind. Sie wirken in ihrem Mitschnittpragmatismus eher wie Überwachungsbilder; als könnten sie nicht eingerichtet sein, sondern müssten den Verhältnissen abgerungen werden. Dazu kommen Aufnahmen von schmucklosen Zweckbauten, die in ihrer Anonymität und Austauschbarkeit an Inszenierungen solcher Gebrauchsräume in der Kunst von Thomas Demand erinnern.

VIDA ACTIVA wirkt wie eine Materialsammlung im Vergleich zu NO TÁXI DO JACK und PROVAS, EXORCISMOS von 2015, dem zweiten der New Opportunities-Filme, in dem Joaquim Calçada zu einer Gruppe von Arbeitern gehört, deren Fabrik insolvent ist. Das betrifft einerseits die Sammlung von Lebensgeschichten, in denen die Schulzeit nach der vierten Klasse oder spätestens im Teenageralter endet und in eine Arbeitsbiografie übergeht wie bei „Jack". Der begann 14-jährig in einer Fabrik zu arbeiten, um mit 22 für zwei Jahrzehnte nach Amerika zu gehen, um dort als Fabrikarbeiter, Taxifahrer und Chauffeur sein Geld zu verdienen (unter anderem für Jackie Kennedy und Muhammad Ali, wie er stolz erzählt). Das gilt andererseits aber auch für den visuellen Stil: Die Schmucklosigkeit der Büroräume in VIDA ACTIVA übersetzt Nobre in NO TÁXI DO JACK in Locations (oder müsste man gerade von Sets sprechen?), die mit Ambition eingerichtet und mit Sinn dafür abgefilmt worden sind und dadurch eine bestimmte Distanz und Kühle verbreiten.

Wertverlust der Arbeit

Jack bewegt sich durch diese Orte, um im Auftrag der Weiterbildungsmaßnahme drei Monate vor der Rente zu dokumentieren, dass er sich für Stellen bewirbt - die er natürlich nie bekommen wird. Er verkörpert damit die Asynchronität des New Opportunities Programme, das den Menschen, die früh die Schule verlassen haben, um zum Einkommen der Familie beizutragen, spät die Bildung zu vermitteln sucht, die sie versäumt haben - obwohl dazwischen lange, prekär gewordene Arbeitsbiografien liegen. Die Gegenwart der Jobangebote, durch die Joaquim Calçada sich mit einer bisweilen komischen Lakonik bewegt, die man aus Filmen von Roy Andersson oder Elia Souleiman kennt, kommt entsprechend zu spät, um anschlussfähig zu sein für das Arbeitsleben, von dem er zugleich aus dem Off erzählt. Die Jobcenter-Wirklichkeit erscheint im Verhältnis zur Arbeit wie ein Museum, in dem Calçada nur mehr Betrachter ist und nicht mehr tätig.


Dass das Betrachten an die Stelle des Tuns getreten ist, sagt etwas darüber aus, wie sich Welt und Wert von Arbeit seit der Mitte des 20. Jahrhunderts verändert haben. Man kann Jacks stellvertretendes Schauen, wir sind hier schließlich in einem Film, aber auch als Anleitung begreifen, um zu verstehen, wie die dokumentarische Erzählung bei Nobre in die Hülle des Fiktionalen gesteckt wird - wie der einstige Taxifahrer Jack an den Stationen seiner Arbeitssuche eben inszeniert als eine Filmfigur aus vergangener Zeit. In gewisser Weise verleiht die Regisseurin Joaquim Calçada damit nicht nur Würde, sondern gibt ihm auch die Arbeit, die das Jobcenter nicht mehr hat: Als Jack wird er zum lässigen Star eines Films, der die triste Wirklichkeit als etwas Größeres, Schöneres imagniert.


Der Schlüssel zu diesem spielerischen Umgang mit den Bildern findet sich in PROVAS, EXORCISMOS, dem Mittelstück der Trilogie. Dort wird die Erzählung einer Großmutter in einer Kirche über die brüchig gewordene Beziehung zu den Enkeln gestört von einer geführten Reisegruppe, deren Guide ein Gemälde erklärt: „Interessant ist, dass dieses Bild zu einer Kunstform gehört, bei der Malerei und Bildhauerei sich ergänzen." Wenn man in NO TÁXI DO JACK das Dokumentarische als das Abbildhafte der Malerei verstünde und die fiktionalen Elemente wie die Autofahrt mit Rückprojektion vom Beginn als Verräumlichung, für die das Skulpturale steht und durch die die Geschichte von Joaquim Calçada als Jack eben noch die größere Dimension des Kinos gewönne – dann ließe sich mit dieser Bildbeschreibung alles über den eigenwilligen Stil von Susana Nobre sagen.

 

Matthias Dell lebt in Berlin und arbeitet als Medienkritiker für Deutschlandradio, Zeit-Online und Cargo.

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