Als Tochter Wuhans, der „Stadt am Fluss“, verspüre ich seit jeher eine Verbindung zum Jangtse. Obwohl meine Kindheitserinnerungen an den Fluss selbst nur verschwommen sind, erinnere ich mich noch lebhaft an das endlose Rauschen der trügerischen Strömung und an meine Begeisterung für einen alten Mann, der im Park am Fluss mit heißem flüssigen Zucker verschiedene Muster auf den Boden malte. Anfangs war es ein Gefühl der Entfremdung, das mich dazu bewegte, diesen Film zu machen. Seit ich Wuhan im Jahre 2010 verließ, hat sich die Stadt bei jeder Rückkehr immer weiter bis zur Unkenntlichkeit verändert. Ständig befindet sich etwas Neues im Bau oder etwas Altes wird abgerissen. Der Smog ist allgegenwärtig. Die Stadt bemüht sich nach allen Kräften, ihrem offiziellen Slogan gerecht zu werden: „Wuhan, Different Every Day“ (Wuhan, jeden Tag anders“). Nichtsdestotrotz wurden die Spuren der Vergangenheit nahezu vollständig ausgelöscht.
Im Rahmen eines Vorzeigeprojekts für die dynamische Stadtentwicklung wurde die Flusslandschaft in den vergangenen Jahren grundlegend erneuert. Gebäude wurden abgerissen, Straßen erweitert, Sehenswürdigkeiten wieder aufgebaut. Im gesamten Stadtgebiet wurden unablässig Renovierungsarbeiten durchgeführt. Der Fluss dient der Stadt zwar als Wachstumsmotor, doch was haben wir im Namen des Fortschritts verloren? Wie können wir einen derart rapiden Wandel verkraften? Wie klein und entfremdet mögen sich die Menschen angesichts einer derart beispiellosen Entwicklungsdynamik in ihrer Stadt fühlen?
Diese Fragen trieben mich um, als ich im Sommer 2016 mit meinen Filmaufnahmen städtischer Räume entlang des Jangtse in Wuhan begann. Natürlich wäre ich zu dieser Zeit nicht im Traum darauf gekommen, dass meine Heimatstadt von einer Gesundheitskrise erschüttert werden könnte, die ihre Entwicklung und die Lebensläufe vieler Menschen vollkommen auf den Kopf stellen sollte. Niemals hätte ich gedacht, dass die Stadt aus derart besorgniserregenden Gründen in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit rücken könnte. Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, dass sich ein Nassmarkt – ein Ort, den meine Großmutter jeden Tag besucht – zu einem schwerwiegenden Problem entwickeln könnte.
Und sicherlich hätte ich es auch nie für möglich gehalten, während all dieser Ereignisse in einem fremden Land ausharren zu müssen. Ich werde nie vergessen, wie hilflos und verzweifelt ich mich fern der Heimat fühlte. Aus der Entfernung bereitete es mir noch viel größere Schmerzen, dabei zuzusehen, wie meine Heimatstadt von Panik und Hoffnungslosigkeit erschüttert wurde und meine Familie und Freunde so großes Leid erfuhren. Ich fühlte mich wie eine Deserteurin. Und erst in diesem Moment erkannte ich schließlich, dass ich diese Stadt niemals würde verlassen können, ganz gleich, wie weit ich mich von ihr entfernte.
Von Zeit zu Zeit erwischte ich mich dabei, wie ich von dem kleinen Imbiss träumte, in dem es meine Lieblingsnudeln mit scharfem Rindfleisch gibt.
Lange habe ich versucht, dieser Durchschnittsstadt zu entkommen. Die extremen Wetterverhältnisse sind mir zuwider. Das Chaos, die schmutzigen Straßen und die endlosen Bauprojekte in der Stadt gehen mir auf die Nerven. Ich schäme mich ein wenig für das hitzige Temperament, das ihren Bewohner*innen nachgesagt wird. Doch von Zeit zu Zeit erwischte ich mich dabei, wie ich von dem kleinen Imbiss träumte, in dem es meine Lieblingsnudeln mit scharfem Rindfleisch gibt. Ich war sehr traurig, als mir meine Mutter nach dem Lockdown berichtete, dass der Laden für immer geschlossen sei. Schon als Kind hatte ich dort gegessen. Er lag einen Häuserblock vom Jangtse entfernt.
Ich beschloss, diesen Film zu einem Brief zu machen. Zu einem Brief an die Stadt – nicht an die Stadt in den Schlagzeilen, sondern an die Stadt in meiner Erinnerung. Doch ich wollte diese Erinnerung nicht mit einem nostalgischen Blick heraufbeschwören, sondern mir Gedanken über die Folgen machen – die in den Ruinen verborgenen Hinweise aufdecken und nach Personen Ausschau halten, die in Vergessenheit geraten sind. Der Film liefert eine Perspektive auf das Vergangene und das Verlorene, das nicht nur von tatsächlichen, sondern auch von möglichen und noch denkbaren Ereignissen berichtet.
Vor einigen Tagen schickte mir meine Mutter ein Foto, auf dem sie am Flussufer zu sehen ist. Ich konnte sie kaum erkennen, weil sie eine Maske, eine Mütze und eine Sonnenbrille trug. Alles andere sah überraschend vertraut aus: die trüben Sonnenstrahlen und die im Dunst liegende Skyline, ein vorbeifahrendes Schiff und die Wogen des Flusses. Es war, als könnte ich sein Rauschen hören. Ich fühlte mich an die Worte Italo Calvinos erinnert, dass nicht die Stimme, sondern das Ohr die Erzählung bestimmt.
23. Januar 2021
Übersetzung: Kathrin Hadeler