AKYN erzählt vom Kampf um Autonomie und Auskommen eines jungen Dichters – unter den besonderen Bedingungen des Lebens im postsowjetischen, turbokapitalistischen Kasachstan.
Ein Autor wird zu einer Lesung in ein Provinzstädtchen eingeladen und dort freundlich von einem der örtlichen Honoratioren empfangen. Abends findet er sich aber in einem beinahe leeren Veranstaltungssaal wieder. Niemand, nicht einmal der Gastgeber, interessiert sich für seine Literatur. Dieses Sujet von Hermann Hesses auf einer wahren Begebenheit beruhenden Erzählung „Autorenabend“ (1914) dient dem kasachischen Regisseur Darezhan Omirbayev als eine literarische Vorlage für seinen jüngsten Film AKYN (Poet). Der renommierte Autorenfilmer, dessen Filme schon in Cannes, Venedig und Locarno liefen, verlegt die Handlung ins Kasachstan der Gegenwart. Anhand des Schicksals eines zeitgenössischen Poeten werden Fragen behandelt, die viele Länder betreffen: nach der Zukunft von Dichtung und Dichtern, Sprache und letztlich der gesamten Kultur.
Didar, der Held des Films, ist Dichter aus Berufung und Journalist bei einer kleinen Zeitung aus finanzieller Notwendigkeit. Er hadert mit der zunehmenden Kommerzialisierung der Gesellschaft, in der Dichter*innen kein Gehör mehr finden, während Popstars von den Massen gefeiert werden. Dass Omirbayev die Rolle des leidenden Dichters ausgerechnet mit Erdos Kanayev besetzt, dem Sänger der in Kasachstan populären heimischen Boygroup Zhigitter, entbehrt damit nicht einer gewissen Ironie.
Eine der ersten Szenen des Films folgt einem intellektuellen Gespräch voller literarischer Verweise über die Zukunft der kasachischen Sprache zwischen Didars Redaktionskollegen. Ihre Befürchtung, dass Kasachisch irgendwann von einer anderen Sprache verdrängt werden und verschwinden könnte, ist trotz massiver Sprachförderung auch heute noch allgegenwärtig im Vielvölkerstaat, wo nach der Unabhängigkeit des Landes mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 nicht einmal mehr alle ethnischen Kasachen ihre Muttersprache beherrschten, sondern sich vorwiegend auf Russisch, der Lingua franca der Sowjetunion verständigten. Eng verknüpft mit dem Schicksal ihrer Sprache ist für die Diskutierenden das Schicksal der Dichter*innen. Für diese sehen sie keinen Platz mehr in der heutigen Gesellschaft, wobei deutlich wird, dass auch früher viele erst nach ihrem Tod gesellschaftliche Anerkennung erfuhren. Didar verfolgt die auf Kasachisch geführte Diskussion schweigend, bis diese schließlich abrupt von einer Sekretärin unterbrochen wird, die sich auf Russisch an den Wortführer der Diskussion wendet (dargestellt übrigens von Omirbayev selbst). Im Film, der in weiten Teilen in kasachischer Sprache gedreht wurde, sind diese in den Untertiteln nicht angezeigten Sprachwechsel stets bedeutungsvoll. Sie markieren Machtgefälle zwischen den Sprechenden, wobei Russisch die Sprache der Macht und des Geldes ist.
Im Kasachstan der Gegenwart können Literaten mangels öffentlicher Literaturförderung und funktionierender Verlagslandschaft sowie geringem Publikumsinteresse kaum von ihrer Kunst leben
Diese durch Sprache ausgedrückten Machtverhältnisse ändern sich dreißig Jahre nach Auflösung der Sowjetunion langsam im Land. In Politik und Verwaltung ist die Beherrschung des Kasachischen inzwischen Voraussetzung, um Karriere zu machen. Dennoch sprechen iim Land bis heute mehr Menschen Russisch als Kasachisch und das Russische hat – anders als in den meisten anderen Nachfolgerepubliken der Sowjetunion – als Sprache der „interethnischen Kommunikation“ einen Sonderstatus in der Verfassung.
Nachdem durch das Gespräch die Thematik des Films umrissen ist, wird sie am Beispiel des Dichters Didar illustriert: gezeigt wird sein vergleichsweise ärmliches Zuhause in der modernen Umgebung Almatys, bis 1997 Hauptstadt Kasachstans und nach wie vor kulturelles Zentrum des Landes, sowie die bereits erwähnte wenig erfolgreiche Lesereise in eine Provinzstadt. In dieser tristen Lage erscheint das unverhoffte Angebot eines reichen Geschäftsmanns an Didar, ein Poem über die Heldentaten von dessen Vorfahren zu verfassen, als eine lukrative Versuchung. Die Geschichte der eigenen Familie spielt auch heute für Kasachen noch eine große Rolle, die Kenntnis der Ahnen bis sieben Generationen zurück ist eine Selbstverständlichkeit, ebenso das Wissen über die Zugehörigkeit der Familie zu einem Stamm und einer der drei traditionellen Horden.
Auch wenn es im modernen Kasachstan durchaus üblich ist, dass sich Geschäftsleute als Mäzene betätigen und etwa traditionelle Volkssänger finanziell unterstützen, empfindet Didar das Angebot, eine verherrlichende Auftragsarbeit zu verfassen, als Demütigung. Gleichzeitig sieht er, dass man von Literatur nur in ihrer kommerzialisierten Form auskömmlich leben kann. Im Film findet diese ihren Ausdruck etwa durch ein Literaturcafé, in dem die Gäste unter den Porträts namhafter kasachischer, russischer und internationaler Dichter ihre Mahlzeiten einnehmen können. Es wird von einem Bekannten Didars betrieben, einst wie dieser ein hoffnungsvoller Literaturstudent. Tatsächlich können im Kasachstan der Gegenwart Literaten mangels öffentlicher Literaturförderung und funktionierender Verlagslandschaft sowie wegen des geringen Publikumsinteresses kaum von ihrer Kunst leben.
Didars innerer Kampf wird im Film dramatisch unterlegt durch einen parallelen Handlungsstrang, der das Schicksal des bekannten kasachischen Akyn (eine Art kritischer Barde) und Widerstandskämpfers Makhambet Otemisuly (1803–1846) erzählt. Otemisuly war gemeinsam mit Isatai Taimanuly Anführer eines Aufstandes von damals noch nomadisch lebenden Kasachen, die sich aus Protest gegen Landmangel und hohe Abgaben 1837 gegen ihren Herrscher (kasachisch: Khan) erhoben. Der Aufstand wurde niedergeschlagen, Taimanuly kam zu Tode, Otemisuly versteckte sich fast zehn Jahre lang in der Steppe vor einer Strafverfolgung. Der Erzählstrang des Films beginnt 1846 in dem Moment, in dem Otemisuly von Häschern des Khans aufgespürt wird. Die überlieferten historischen Fakten in der filmischen Darstellung etwas verändernd, unterbreiten sie ihm das Angebot des Khans, für den Druck seiner Gedichte zu sorgen, verbunden mit der Aufforderung, den Herrscher in künftigen Werken zu preisen. Otemisuly lehnt es ab, sich an den Khan zu verkaufen, und bezahlt dafür mit seinem Leben.
Auch Didar schlägt schließlich das Angebot des Mächtigen unserer Zeit aus. Die Verflechtung des Schicksals des historischen Akyn Otemisuly mit dem des zeitgenössischen Dichters Didar wird dadurch verstärkt, dass zentrale Figuren der beiden Handlungsebene von denselben Darstellern gespielt werden: so verkörpert Kanayev nicht nur Didar, sondern auch Otemisuly, genauso wird Otemisulys Mörder von der gleichen Person dargestellt wie der Geschäftsmann, der Didar das zweifelhafte Angebot unterbreitet.
Im Verlauf des Films erfährt der Zuschauer in einigen Rückblenden mehr über das Schicksal der sterblichen Überreste Otemisulys, das Aufschluss über den Wandel seiner Bewertung in der kasachischen Erinnerungskultur sowie den gesellschaftlichen Umgang mit Dichtern gibt. Über ein Jahrhundert war der Ort seines Grabes in der Steppe lediglich durch einen kleinen Sarkophag markiert und nur Eingeweihten bekannt. Erst 1995, vier Jahre nach der Unabhängigkeit Kasachstans, wurde dort ein Mausoleum aus weißem Marmor errichtet, in dessen Wände kämpferische Zeilen aus seinen Gedichten eingraviert sind. Diese Verse, die im Film in langsamen Kamerafahrten zum Mitlesen gezeigt werden, spiegeln die inhaltliche Vielfalt der Werke Otemisulys indes nicht wider. Die etwa hundert erhaltenen Gedichte, die erst nach dem Tod des Dichters verschriftlicht wurden, haben ein breites thematisches Spektrum und reichen von Elegien bis zu deutlicher Herrschaftskritik. Die Auswahl der kämpferischen Verse für das Grabmal kann man wie die Errichtung des gesamten Mausoleums als Ausdruck der Suche der Kasachen nach ihrer eigenen Vergangenheit interpretieren, in der sich – wie in vielen anderen postsowjetischen Staaten – ein wachsender Nationalismus zeigt.
Moderne Poeten, die einen solchen kritisieren, haben es in Kasachstan nicht nur aufgrund fehlender Publikationsmöglichkeiten und geringen Publikumsinteresses schwer, sondern auch wegen der politischen Verhältnisse. Und so übt der Dichter Didar im Film auch keine Kritik an den bestehenden Verhältnissen. Gleichwohl bewahrt er sich mit der Ablehnung des seine Dichterehre korrumpierenden Auftrags seine Würde.
Nina Frieß ist Slavistin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) Berlin.
Beate Eschment ist Zentralasien-Expertin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS), Berlin.