Was geschieht, wenn sich Dokumentation und Fiktion, Realismus und Surrealismus, Komödie, Tragödie, Theater, Kino und Zoom Covid und Familienleben miteinander verstricken?
Dieser Frage widmet sich LA EDAD MEDIA (The Middle Ages) von Luciana Acuña und Alejo Moguillansky. Der Film löst kinetische Wechselwirkungen zwischen Körpern, Technologien, Ideen und Träumen aus und setzt dem Trübsinn des Lockdowns einen überschäumenden Einfallsreichtum entgegen.
LA EDAD MEDIA erfindet das Kino in Zeiten von Covid neu als mise en abyme, das entwirrt, aufgebrochen, spielerisch betrachtet werden und unterhalten soll. Medientechnologien – von Mobiltelefonen, Computerbildschirmen, Kameras, Bluetooth-Boxen und Mikrofonen bis hin zu Schallplattenspielern, Kopfhörern, Büchern und Teleskopen – sind allgegenwärtig.
Verschlungene Narrative
Selbstreflexive Strategien bestimmen, unterstützt von Zoom, das Spiel der Darsteller*innen. Der Film zeigt die Filmschaffenden selbst mit ihrer Tochter Cleo. Immer wieder treten Kunstschaffende aus Argentinien auf, darunter Schauspieler und Regisseur Lisandro Rodriguez, Schauspieler Lalo Rotavería, Drehbuchautor Walter Jakob und Komponist Oscar Strasnoy als Cleos Zoom-Klavierlehrer. Acuña unterhält sich am Computer mit ihrem Kreativpartner aus dem wirklichen Leben, Luis Biasotto, über die zunehmende wirtschaftliche Unsicherheit von Künstler*innen. Biasotto starb im Mai 2021 tragischerweise an einer Covid-Erkrankung.
Der Film erzählt die Geschichte einer dreiköpfigen Familie, die den Lockdown in ihrem dreistöckigen Zuhause in Buenos Aires verbringt. Der Vater ist Filmemacher, die Mutter Tänzerin. Ihre zehnjährige Tochter ist Schülerin und wünscht sich ein Teleskop.
Die Eltern sind verzweifelt bemüht, ihre künstlerische Arbeit im Lockdown über Computer, Mobiltelefon und Zoom fortzusetzen. In der angespannten Atmosphäre entbrennen Streitigkeiten. Moguillansky will aus der Ferne die Regie zu Samuel Becketts absurdem Theaterstück „Warten auf Godot“ (1952) führen, doch seine Darstellenden und die Aufnahmetechnik machen ihm einen Strich durch die Rechnung. Acuña piesackt derweil ihre Tanzstudent*innen über Zoom.
Die Erzählung wird zu einem Gemeinschaftsprojekt, das die Figuren und Konzepte zwischen dem Sublimen, Philosophischen, Fantastischen und Alltäglichen oszillieren lässt
In LA EDAD MEDIA löst sich dieser scheinbar einfache Plot auf, indem der Film die Mittel des Genre- und des Kunstfilms auf spielerische Weise verzerrt. Die Erzählung wird zu einem Gemeinschaftsprojekt, das die Figuren und Konzepte zwischen dem Sublimen, Philosophischen, Fantastischen und Alltäglichen oszillieren lässt. Der Film hüllt melodramatische Momente in Komik, wenn er von familiären Konflikten erzählt. In ihrem Zuhause als einzigem Schauplatz bewegen sich die Figuren treppauf und treppab, zwischen Esszimmer und Bad, und rauchen eine Zigarette auf dem Dach. Die Mutter schlägt auf einen Boxsack ein, der im Esszimmer von der Decke baumelt. Der Vater liest Verse aus „Warten auf Godot“ in sein Mobiltelefon. Cleo steigt auf die Dachterrasse und betrachtet den Mond.
Während des gesamten Films analysiert Cleo im Voiceover treffend und trocken die familiären Auseinandersetzungen. Während ihre Eltern von Existenzängsten geplagt werden, langweilt sie der Zoom-Unterricht und sie träumt vom Mond. Dann tut sie sich mit einem mysteriösen Motorradfahrer mit dem Namen Moto zusammen, um heimlich Gegenstände aus ihrem Haushalt zu verkaufen und so das Geld für ihr ersehntes Teleskop zu verdienen. Cleo, die ihren Namen mit der griechischen Muse der Geschichtsschreibung teilt, ist die einzige Figur, die sich auch außerhalb ihres Zuhauses als handlungsfähig erweist.
Zerrissene Zeitebenen
Der Aufbau von LA EDAD MEDIA erinnert an ein Kammermusikstück, in dem wenige Interpret*innen im kleinen Kreis Melodielinien miteinander austauschen. Schon früh im Film kündigt ein Stück für Streicher auf dem Soundtrack diese Anspielung an. Die Anklänge klassischer Musik werden immer wieder von argentinischen Canciones und Rockmusik unterbrochen, während zeitgleich Cleos stockendes, zögerliches Klavierspiel den Film begleitet und daran erinnert, dass wir alle in einer Pandemie neue Stücke lernen.
Der Aufbau von LA EDAD MEDIA erinnert an ein Kammermusikstück, in dem wenige Interpret*innen im kleinen Kreis Melodielinien miteinander austauschen
Zeitlichkeit wird durch den endlosen Lockdown zu einem brüchigen und bedeutungslosen Konzept. Am Himmel auftauchende Titel geben die jeweilige Zeit an, jedoch ohne erzählerische Zusammenhänge: „Am kommenden Montag“, „Kurz darauf“, „Noch am selben Nachmittag“, „Mittwoch“, „Einige Wochen später“. Der Mond nimmt in LA EDAD MEDIA weder ab noch zu. Es ist immer Vollmond. Wieder und wieder rezitieren die Figuren eine Zeile aus Becketts„Rockaby“ (1981): „Zeit, dass sie aufhört.“
In LA EDAD MEDIA bilden das Reale und das Surreale allmählich eine Einheit. Ein geheimnisvoller Mann im Schutzanzug betritt den Raum und stößt Rauch aus. Cleos Geist verlässt ihren Körper im sehnsüchtigen Verlangen nach einem Teleskop. Cleo greift ihre Mutter mit einem Spielzeug-Betäubungsgewehr an. Luciana stolpert über Möbel, und wandelt ihre Vernichtung in einen avantgardistischen Tanz. Der immer wieder gezeigte Mond, Himmel, Hund, Fenster, Türen, Treppen, Spiegel, Bücher, Bildschirme und das Geld treten als philosophische und politische Talismane hervor. Irgendwann ist das Zuhause so gut wie leergeräumt und bietet nur noch eine nackte Bühne.
Auch wenn das Zuhause und die Familie ein zentrales Thema des Films sind, ist LA EDAD MEDIA kein typischer Amateurfilm, weil er viele hervorragend komponierte Tableaux-Bilder enthält, die sich nicht mit einer Handkamera aufnehmen lassen. Die Kamera dokumentiert in langen Einstellungen häusliche Szenen, um die Verlangsamung der Zeit zu verdeutlichen: Die Familie isst gemeinsam an einem Tisch zu Abend; Cleo unterhält sich mit ihrem duschenden Vater; Mutter und Tochter machen es sich auf der Dachterrasse bequem. Obwohl der Film von Energie erfüllt ist – ob durch Alejos intensive Regiearbeit, Lucianas Körper, der ständig in Bewegung ist, oder Cleos Geschäftigkeit, die das gesamte Zuhause in einen Zustand der Entropie versetzt –, sind die Handlungen doch auf die statischen, kontrollierten Aufnahmen der beiden Filmschaffenden beschränkt.
Der Titel LA EDAD MEDIA, übersetzt ins Deutsche: „Das Mittelalter“, wirft unbeantwortete Fragen auf. Soll er auf das Mittelalter und die Beulenpest anspielen? Oder ist er ein Hinweis auf Cleos Alter an der Schwelle zur Adoleszenz? Steht er für die ungeklärte gegenwärtige Situation, die in der Mitte zwischen dem Leben vor und nach der Pandemie, der Kunst und dem Kino hängengeblieben ist? Das müssen Sie selbst entscheiden.
Patricia R. Zimmermann ist Charles A. Dana Professorin of Screen Studies am Ithaca College, Ithaca, New York, USA, und hat zehn Werke zur Filmgeschichte und -theorie verfasst.
Übersetzung: Kathrin Hadeler